Schicksal aus zweiter Hand
Tages saß Gerholdt am Bettchen Ritas und las ihr aus einem dicken Märchenbuch vor. Es war ein trauriges Märchen. Das Märchen von einem kleinen Waisenkind, dem eine gütige Fee Glück schenkt.
Er las dieses Märchen mit stockender Stimme. Rita lag im Bettchen, die goldenen Locken mit zwei hellroten Schleifchen zusammengebunden. Im Nebenraum, der Küche, hörte man das Klappern von Geschirr. Das Hausmädchen wusch ab und räumte die Teller und Tassen in den Küchenschrank zurück.
Rita betrachtete Gerholdt aus großen runden Augen.
»Papi«, sagte sie. Gerholdt unterbrach seine Vorlesung. »Papi, was ist eine Waise?«
Gerholdt schluckte. Er richtete Rita in dem Bettchen auf und ergriff ihre kleinen, kalten Hände. Eine Welle von Liebe und unerklärbarer Verbundenheit strömte von ihm zu dem Kinde über. »Sieh einmal«, sagte er stockend, um jedes Wort ringend, daß es nicht zu hart klang und doch in das Verständnis Ritas einging. »Wenn ein Mädchen oder ein Junge keinen Papi und keine Mutti mehr hat, dann ist es eine Waise. Es gibt Kinder, die haben nur einen Papi, und welche, die haben nur eine Mutti …«
»Aber ich habe doch einen Papi und eine Mutti –«
»Du hast einen Papi –«
»Und eine Mutti!« sagte Rita fest.
»Auch.« Gerholdt umklammerte die Hände Ritas, als könnten sie ihm Halt geben. »Aber deine Mutti ist weggegangen.«
»Wohin denn?«
»Weit weg … zu den Engeln. Weißt du … dort, wo der liebe Gott ist –« Er würgte an dem Wort ›Gott‹ und empfand es schal, als er es aussprach. Aber als er sah, wie über Ritas Gesicht ein helles Leuchten zog, verlor das Wort für ihn den bitteren Geschmack.
»Ein richtiger Engel?« fragte Rita.
»Ja.«
»So, wie es im Märchen steht, Papi? Mit Flügeln?«
»Auch mit Flügeln, Rita.« Er sah zur Seite. In seinen Augen brannte es. Er spürte die Finger Ritas in seinen Händen beben.
»Und Mutti wird beim lieben Gott bleiben?«
»Ja.«
»Und wartet auf uns?«
Gerholdt nickte. Er war nicht mehr fähig, ein Wort zu sagen. Seine Kehle war zugeschnürt. Er fühlte, wie es aus den Augenwinkeln über seine Wangen tropfte. Er schämte sich dessen.
»Warum nimmt uns Mutti nicht mit?« fragte Rita. Gerholdt zuckte hoch. Nein, schrie es in ihm. Nein! Wenn es einen Gott gibt, dann ist dies das Ende der Prüfung! Laß mir Rita! Laß mir das Letzte vom Leben, was ich liebe. Es wäre ja alles sinnlos gewesen, was bisher geschehen ist! Der Tod Irenes war schon sinnlos … warum nun diese Frage? Wenn du mir Rita auch nimmst, werde ich dich verfluchen, daß die Sterne von deinem Himmel fallen!
»Wir müssen auf der Erde bleiben, Rita«, sagte er mühsam. »Mutti will, daß wir weiterleben. Du mußt groß werden, und Papi soll dir alle Schönheiten der Welt zeigen. Das hat Mutti gesagt, bevor sie zum lieben Gott ging.«
»Und ein Engel wurde, Papi …«
»Und ein Engel wurde –«
Später, in der Nacht, trat er noch einmal an Ritas Bett. Sie schlief, mit einem glücklichen Lächeln um die kleinen, rosa Lippen.
Sie träumte von Mutti, die ein Engel war.
Und es war, als schwebe der Geist Irenes durch das dunkle Zimmer und streiche über die goldenen Locken des Kindes.
Die Locken, die zusammengebunden waren mit zwei roten Bändern …
Petermann war weniger erstaunt als bis zur Feigheit erschreckt, als er nach dem Klingeln öffnete und Gerholdt vor sich sah.
»Du?« sagte er gedehnt. Er dachte daran, daß er allein in der Wohnung war und daß er keine Möglichkeit mehr sah, in Sekundenschnelle Verstärkung heranzuholen. »Was willst du denn?«
»Dich sprechen.« Gerholdt war freundlich, was Petermann um so mehr in eine heillose Angst trieb.
»Bitte.«
Gerholdt betrat die Wohnung … eine Diele, ein geschmackvoll eingerichtetes Herrenzimmer mit schweren altdeutschen Möbeln, tiefen, lederbezogenen Klubsesseln und einer breiten Couch. Petermann folgte ihm. Er hatte die Hand in der Tasche und umklammerte den Griff seiner Walther-Pistole, die er aus der Kampfzeit der SA in sein Privatleben hinübergerettet hatte. Ich schieße ihn einfach um, wenn er mich angreift, dachte er. Es wird heißen: Notwehr. Der Obersturmbannführer wird für mich aussagen. Gerholdt ist ein Abtrünniger … dafür können wir Zeugen bringen. Einen ganzen SA-Sturm stark!
»Was willst du von mir?!« sagte er grob. Er blieb in der Nähe der Tür stehen und sah, wie sich Gerholdt setzte. »Seit damals glaube ich, daß wir uns nichts mehr zu sagen haben.«
»Von deinem
Weitere Kostenlose Bücher