Schicksal aus zweiter Hand
neuen Druckstahles innerhalb drei Monaten zu erhalten, fand Irenes Wohnung leer. Von der Nachbarin erfuhr er die plötzliche Erkrankung und raste hinaus zur Lindenburg. Der Stationsarzt fing ihn auf dem Flur ab, als er durch die Gänge rannte und das Zimmer suchte. Die Pfortenschwester hatte bereits nach oben angerufen.
Dr. Schauchardt nahm Gerholdt mit in sein Zimmer und bot ihm eine Zigarre an. Gerholdt dankte.
»Was ist mit Irene?« fragte er atemlos. »Bitte, beruhigen Sie mich nicht mit einer Zigarre oder einem Kognak! Ich möchte die Wahrheit wissen. Ich kann sie vertragen. Ist es ernst?«
Dr. Schauchardt sah auf seine langen, schmalen Hände. Er hob dabei die Schultern.
»Was soll man als ernst bezeichnen? Im Augenblick ist es ernst … im nächsten Augenblick kann sie geheilt sein. Es ist ein starker Nervenschock mit einer Verkrampfung der Herzkranzarterien. Sie wollen die Dame heiraten?«
»In zwei Monaten.«
»Hm.«
»Der Termin war fest.«
Dr. Schauchardt sah kritisch zu Gerholdt hin. »Ihre Braut ist geschlagen worden …«
»Geschlagen –« Gerholdt war aufgesprungen. In seine Augen trat jene Leere, die völlige Hilflosigkeit und Verblüffung erzeugt. Der Arzt nickte schwer.
»Als sie eingeliefert wurde, zeigte die Gesichtshaut deutliche Druckstellen von Schlägen. Auf der linken Backe befand sich ein kleiner Bluterguß, der in der Mitte deutlich einen Abdruck aufwies. Sinnigerweise war es ein Hakenkreuz.«
»Ein –« Gerholdt atmete hastig. Dr. Schauchardt steckte sich eine Zigarette an.
»Ihr Fräulein Braut muß von einem Mann geschlagen worden sein, der an der Hand einen dicken Siegelring mit einem Hakenkreuz trägt. Eine andere Erklärung dieses Druckmales ist nicht möglich. Können Sie darüber Auskunft geben?«
Gerholdt schüttelte den Kopf. »Ich habe keine solchen Schweine in meiner Bekanntschaft.«
»Folgern Sie bitte nicht falsch, Herr Gerholdt. Nicht alle Parteigenossen sind so. Auch ich bin Parteigenosse. Deshalb interessiert es mich besonders, wer der Bursche war, der Ihrer Braut so zusetzte. Leider hatten wir bis heute keine Möglichkeit, Fräulein Hartung zu fragen. Sie liegt seit ihrer Einlieferung in dem Nervenfieber und einer Art Koma, wird künstlich ernährt und ist überhaupt nicht ansprechbar.«
»Darf ich sie sehen?« fragte Gerholdt schwach. Eine wahnsinnige Angst fiel ihn an. Er dachte daran, wie er das Kindermädchen von Buckows so lange schlug, bis sie wimmernd den Namen des Rita rettenden Medikaments nannte. Auch bei diesem Mädchen stellte sich ein Nervenschock ein, nur war er nicht so schwer und gefährlich wie bei Irene. Gerholdt senkte den Kopf. Unser ganzes Leben ist ein Kreis … mal größer, mal kleiner … Wir bekommen alles zurück, was wir einmal anderen getan haben. Das Schicksal vergißt nicht. Es ist wie eine gut addierende Rechenmaschine, die einmal mit einem Ruck die Gesamtrechnung ausspuckt. Und wir müssen bezahlen, auch wenn wir dabei zugrunde gehen. Es gibt nichts Gnadenloseres als die Rechnung des Schicksals.
Dr. Schauchardt erhob sich und drückte die Zigarette aus.
»Kommen Sie. Aber nur ganz kurz. Einen Blick ins Zimmer nur. Wir wissen nicht, wie sie reagiert, wenn sie Sie wirklich erkennen sollte. Vielleicht kann es vor neuer innerer Erschütterung zum Exitus kommen … vielleicht heilt sie der Anblick. Wir wissen es nicht und wollen deshalb vorsichtig sein.«
Frank Gerholdt nickte wortlos. Er ging mit unsicheren Schritten hinter dem Arzt her bis zu einem Zimmer am Ende des langen, weißen Ganges. Dort brannte über der Tür eine kleine rote Lampe. Eintritt verboten, hieß das. Das kleine rote Licht fiel wie ein ganzer Berg auf das Herz Gerholdts. Sie liegt im Sterbezimmer … man hat sie aufgegeben … Er schloß die Augen und lehnte sich gegen die Wand. Dr. Schauchardt blieb stehen.
»Ich glaube, es ist besser, Sie betreten nicht das Zimmer«, sagte er leise.
Gerholdt schüttelte den Kopf. »Nein, nein … es war nur eine Schwäche. Ich komme soeben aus Berlin. Ich bin die ganze Nacht durchgefahren. Ich möchte Irene sehen –«
Er riß sich zusammen. Wie eine aufgezogene Puppe, mit steifen Knien, ging er die wenigen Schritte bis zur Tür. Er sah verschwommen die kleine schwarze Nummer auf dem Türblatt. Nr. 46. Dann öffnete Dr. Schauchardt sie einen Spalt und schob Gerholdt heran.
Das Zimmer war lang und schmal. Vor dem Fenster stand das Bett. In den Kissen und unter der weißen Decke sah er den Kopf Irenes liegen. Schmal,
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