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Schicksal aus zweiter Hand

Schicksal aus zweiter Hand

Titel: Schicksal aus zweiter Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Front sich wieder belebte, stand Gerholdt mit dem Pferd in der Scheune und schirrte den kleinsten Wagen an.
    »Er genügt«, sagte er zu Frau von Knörringen. »Wir brauchen nichts mitzunehmen als ein paar warme Decken und Federbetten. Alles andere werden wir uns besorgen. Wir werden die letzten sein – aber wir werden durchkommen!«
    Rita erschien in einem dicken Mantel, über den sie noch einen Pelz Frau v. Knörringens gezogen hatte. Er war zu groß und schleifte über den Boden nach, eine tiefe Rinne in den Schnee grabend. Die langen, blonden Haare hatte sie aufgesteckt und unter einem dunklen Kopftuch verborgen. Sie sah aus wie eine junge Bäuerin.
    Frau von Knörringen hatte zwei Pelze übereinander angezogen und ging, da sie auch noch drei Kleider übereinander trug, unter der Last vorgebeugt zu dem Wägelchen, kletterte als erste hinauf und reichte Rita die Hand.
    »Komm«, sagte sie. Sie zog Rita auf den Wagen, und beide Frauen hockten sich inmitten der Kissen, Betten und Decken hin, sich in die Federn einwühlend.
    »Warm?« rief Gerholdt hinauf.
    Sie nickten.
    Langsam führte Gerholdt das Fuhrwerk aus der Scheune auf den Hofplatz. Im Osten dämmerte der Morgen … Der Himmel war fahl, streifig, grau. Neuer Schnee würde kommen, neue Kälte, neuer Frost. Die Straßen würden wie ein Spiegel werden oder wie Gebirge, in denen die Räder des Wagens steckengeblieben und die Pferde in den Schnee sanken und lautlos verendeten.
    »Nichts vergessen?« fragte Gerholdt noch einmal hinauf. Frau v. Knörringen nickte mit geschlossenen Augen.
    »Die Heimat –«
    »Wir werden sie wiederbekommen.«
    »Nie, Herr Gerholdt.«
    »Die Geschichte bleibt nicht stehen. Sie ändert sich innerhalb der Jahrhunderte.«
    »Aber dieses nicht … Es ist für mich ein Abschied für immer.«
    Sie wandte den Kopf und überblickte noch einmal ihren Hof. Das Herrenhaus … die Ställe … die Scheunen … das Geflügelhaus … die beiden Brunnen … den Karpfenteich … die mächtigen Kiefern und Birken, die seit Jahrzehnten und teils Jahrhunderten um den Hof standen und ihn einrahmten wie in einen wertvollen barocken Holzrahmen. Sie sah noch einmal über die Felder, die tief verschneit unter dem fahlen Frühmorgenhimmel lagen, sie sah hinüber zu dem Wäldchen, in dem ihr Mann vor zwanzig Jahren mit einer lustigen Jagdgesellschaft jährlich zweimal das Halali blies … sie sah über ein ganzes Leben hinweg, über Geburt, Kindheit, Jugend, Sehnsucht, Erfüllung, Reife, Stillstand, Alter und Vergessen.
    Sie nahm Abschied von einer ganzen Welt.
    Einer Welt, die – das wußte sie – für immer untergehen würde.
    Frank Gerholdt gönnte ihr die wenigen Minuten des Abschieds und der Erinnerung. Er hielt den Kopf des Pferdes ruhig und streichelte es über die Nüstern, deren Atem in der Morgenkälte dampfte und oberhalb der Nase in hellen Tropfen gefror.
    Von Ortelsburg her heulten die Raketengeschosse der Stalinorgeln und zerrissen die Morgenstille. Frau v. Knörringen fuhr aus ihren Gedanken auf. Die selige und doch traurige Versunkenheit ihres Gesichtes wandelte sich in Angst und Entsetzen.
    »Fahren wir –«, sagte sie zitternd.
    Gerholdt nickte. Er zog an der Trense des Pferdes und führte es aus dem Hof hinaus auf die eisverkrustete Dorfstraße. Er stapfte durch die Schneewehen und führte das Pferd mit dem kleinen Wagen hinter sich sicher aus Angerburg hinaus. Erst außerhalb der letzten verlassenen Häuser stieg er vorne auf den schmalen Holzbock und nahm die Zügel in die blaurot gefrorenen Finger.
    Langsam, wie der Trauerwagen eines Begräbnisses, zogen sie durch die Morgendämmerung. Die völlige Einsamkeit um sie herum wurde grandios und drückend durch die Weite der weißen Flächen und das ferne Rollen einer näher kommenden Vernichtung.
    Zwischen Angerburg und dem brennenden Dorf Binfelden stießen sie auf eine Truppe. Regimentsstab der 65. Inf.-Div. und eine Kompanie Nachrichten. In zwei großen Scheunen lagen Verwundete und rollten Sankas durch die breiten Tore, wo sie von stöhnenden Menschen entladen wurden.
    Hauptverbandsplatz. Drei Fahnen mit dem Roten Kreuz flatterten vor den Eingängen.
    Ein Oberleutnant in Tarnjacke und aufgeweichter Feldmütze hielt Gerholdt an.
    »Was machen Sie denn noch hier? Wo kommen Sie denn her?«
    »Aus Angerburg. Wir wollen ins Reich …«
    »Verrückt! Alle Brücken sind gesprengt. Der Russe bricht im Süden durch. Bleiben Sie hier … sie erfrieren auf der Straße!«
    »Wir müssen aus

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