Schicksal aus zweiter Hand
Ostpreußen hinaus!« sagte Gerholdt fest. »Wir werden nicht erfrieren!«
Der Oberleutnant zuckte mit den Schultern und ging weiter. »Wem nicht zu helfen ist …«, sagte er beim Weggehen. »Sie werden nicht weit kommen.«
Und sie zogen weiter … den ganzen Tag … durch Schnee und Sturm, der über die Felder raste und sie einhüllte in den Nebel fliegenden Schnees. Rita und Frau v. Knörringen hatten sich zwischen die Federbetten eingewühlt … wie in einer tiefen Kuhle lagen sie zusammen, eng aneinandergeschmiegt, sich wärmend wie Tiere und doch zitternd und mit den Zähnen klappernd vor der fast unwirklichen Gewalt der Kälte und des wirbelnden Schnees.
Vorne, auf seinem Holzbock, hockte Frank Gerholdt. Eine unförmige, mit Eis überkrustete Gestalt. Ein urweltlicher Dämon, der das röchelnde Pferd vorwärtstrieb und keine Weiten kannte, keine Kälte, keinen Hunger, keine Erschöpfung. Weiter … nur weiter. Im Rücken folgt der Russe. Der Tod.
Als die Nacht kam – schneefrei, klar, mit einem zauberhaften Sternentuch des Himmels – rasteten sie in einem verlassenen Ort. Sie krochen in die Scheune eines Hauses, drehten sich in Decken und in die Federbetten und schliefen den traumlosen, bleiernen Schlaf zu Tode Erschöpfter. Das Pferd warf sich hin, wo es stand … es rollte auf die Seite und schnaufte mit zitternden Flanken in das Stroh.
Frank Gerholdt ging durch die Scheune und das verlassene Bauernhaus. Er schleppte trockene Holzklötze heran, legte Ziegelsteine, sauber aufgeschichtet, herum und entfachte ein kleines Feuer, an dem er sich die Hände auftaute und in dem mitgenommenen Kessel eine Suppe kochte. Da er kein Wasser fand, schmolz er Schnee in dem Topf … mit einem Holzstück rührte er die Würfelsuppe um … Wärme, flüssige Wärme … das war es, wonach er sich sehnte. Wärme innerhalb des Körpers … er hätte auch heißes Schneewasser getrunken, nur um zu spüren: es durchrinnt mich. Ich lebe noch … ich fühle noch den Unterschied zwischen kalt und heiß.
Als die Suppe gekocht war, aß er aber nicht zuerst, so sehr es ihn drängte, sondern er weckte Rita und Frau v. Knörringen und zwang den Halbohnmächtigen die warme Flüssigkeit zwischen die Lippen.
»Essen«, sagte er eindringlich. »Ihr müßt essen! Vor uns liegen Hunderte Kilometer. Wir müssen durchhalten! Schluckt doch … schluckt …«
Erst als Rita und Frau v. Knörringen wieder in ihren barmherzigen Schlaf zurücksanken, schlürfte er den Rest der Suppe aus dem Topf.
Herrlich, durchrann es ihn. Wie herrlich! Eine Mehlsuppe mit Erbsengeschmack, gekocht mit aufgelöstem Schnee. Sie ist köstlicher als die Potage des Düsseldorfer Chefkochs vom Parkhotel. Sie ist wunderbarer als alle Gerichte der in Leder gebundenen Speisenkarte, die ein Buch ist durch die Landschaften der Welt. Sie ist das Herrlichste, was ich je aß … sie ist Leben … erhaltendes Leben …
Als er den Topf leergegessen hatte, ging er wieder hinaus in die kristallklare, eisige Nacht und schöpfte ihn erneut voll Schnee. Er löste ihn auf, ließ ihn über dem flackernden Feuer heiß werden und beugte sich mit dem heißen Schneewasser über das Pferd.
»Du«, sagte er leise. »Du darfst am letzten liegenbleiben. Was sollen wir ohne dich?« Er tauchte die Hand in das warme Wasser und wusch damit die eisverkrusteten Nüstern des Pferdes … dann hielt er den Kopf in den Kessel und ließ das Pferd das heiße Wasser schlürfen. Es schmatzte, es blies mit den Nüstern in den Topf, es ließ die Zunge in das warme Wasser hängen und bewegte sie wie ein Ruder hin und her. Aber es trank … auf der Seite liegend, eingewühlt in das Stroh.
»So ist es gut«, sagte Gerholdt und streichelte über das struppige Fell. »Nicht wahr … es rinnt durch den Körper wie Feuer. Es ist wie frisches Blut …«
Er schwieg. Blut, dachte er. Ich komme nie von ihm los. Immer ist es an mir, um mich, an meinen Händen, in meinen Gedanken. Ist dies alles die Strafe Gottes? Wird er uns jetzt verrecken lassen, schlimmer als ein Tier, das hinausgejagt wird in die Einsamkeit? Kann er mich so strafen?! Welche Schuld hat Rita? Welche Frau v. Knörringen?
Er nahm den warmen Kopf des Pferdes in seinen Schoß und kraulte es zwischen den Ohren. Es blähte die Nüstern und schnaufte. Aber es lag still und zitterte mit den großen traurigen Augen unter den streichelnden Händen des Menschen, der es stundenlang antrieb und durch Eis und Schnee, Sturm und Kälte jagte und jetzt mit
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