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Schicksal aus zweiter Hand

Schicksal aus zweiter Hand

Titel: Schicksal aus zweiter Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Aber wenn die Sonne erst durch den trüben Himmel brach, mußten sie schon auf dem Treck sein. Die Zeit lief mit ihnen und gab ihnen keine Gnade. Im Rücken rasselten die russischen Panzer durch die dünnen deutschen Linien und walzten die letzten Widerstände in den Schnee.
    Gerholdt beugte sich über den blonden Kopf Ritas und küßte ihre Stirn, die weichen, langen Haare und den im Schlaf verkniffenen Mund. Sie erwachte nicht davon … nur ein kurzes inneres Leuchten flog über ihr ernstes Gesicht. Frau v. Knörringen sah aus dem Stroh hoch. Das fahle Licht des Morgens ließ ihr Gesicht noch eingefallener und bleicher erscheinen.
    »Schon wieder weiter?« fragte sie stöhnend. »Wir haben doch kaum geschlafen.«
    »Fünf Stunden –«
    »Was sind fünf Stunden?«
    »Fünf Ewigkeiten, wenn der Russe im Rücken ist! In fünf Stunden kann er hier sein.«
    Das Wort ›Russe‹ genügte Frau v. Knörringen, aus dem Stroh zu kriechen. Sie schlug die Hände gegen den Körper und trat nach draußen in den verharschten Schnee, schaufelte ihn mit den Händen zusammen und wusch sich mit ihm das Gesicht. Unterdessen trug Gerholdt die schlafende Rita auf den Armen zu dem Wagen und bettete sie in die Federbetten, die er vorher hinausgeschafft hatte. Um es noch wärmer zu machen, schichtete er Stroh um sie herum, stopfte Stroh zwischen die wenigen Hausratsgegenstände und häufte auch Stroh unter seinen Kutschersitz.
    »Wer weiß, ob wir wieder eine Scheune mit Stroh finden«, sagte er zu Frau v. Knörringen, die ebenfalls zwei Bündel herbeitrug. »Jedes Büschel Stroh kann für uns Wärme und damit Leben bedeuten.« Er schichtete es auf den Wagen und wischte sich dann über die Stirn. Trotz der Kälte schwitzte er vom schnellen Tragen. Er überblickte den kleinen Wagen und nickte mehrmals mit dem Kopf. »Wie genügsam der Mensch wird«, sagte er leise. »Erst war es ein Haus am Rhein mit siebzehn Zimmern und großen Terrassen – jetzt ist es ein Ballen Stroh auf einem hölzernen Wagen. Vielleicht ist Gott klüger, als wir es einsehen wollen …«
    »Er ist gerechter …«
    Frank Gerholdts Kopf fuhr zu Frau v. Knörringen herum.
    »Gerecht? Es wäre jetzt schrecklich, wenn er wirklich gerecht wäre. Es wäre furchtbar für uns alle, – beten wir, daß er ein vergebender Gott ist.«
    »Wie es auch sei – er allein hat uns in seiner Hand.«
    Frau v. Knörringen stieg in die Strohballen und kuschelte sich neben der noch immer schlafenden Rita zwischen die Betten unter die Decken. Gerholdt setzte sich auf seinen Holzsitz und nahm die Zügel in die Hand. Eisschnüre, an denen der Schnee zu Trauben gefroren herabhing.
    Und wieder zogen sie durch die Einsamkeit, durch den Wind, der aufkam und den Schnee über sie hinwegtrieb, durch die Sonne, die gegen Mittag durchbrach, kurz nur, aber in ihrem goldenen Schein die Kälte zur klirrenden Spürbarkeit wandelnd, durch den diesigen Nachmittag, der neuen Schnee ankündigte. Nachtschnee, dick, die Erde polsternd, unwegsam, alles erstickend.
    Je näher sie der westlichen Grenze kamen, um so mehr Menschen trafen sie. Soldaten, die in den rückwärtigen Städten gesammelt wurden, um in einem tief gestaffelten Verteidigungssystem das Vordringen der Russen zu verlangsamen. An eine Abwehr dachte niemand mehr … nur Zeit gewinnen, aufhalten, die schreckliche sowjetische Dampfwalze hindern … noch lebte fast eine Million Menschen in Ostpreußen und wartete auf den Bahnsteigen der Städte zu Tausenden zusammengedrängt auf die versprochenen Züge, die sie aus der tödlichen Umklammerung herausbringen sollten. In den Bahnhöfen starben die Menschen, stehend, sitzend, liegend … man merkte erst, daß sie gestorben waren, wenn sich eine Lücke in der Menschenmasse bildete und die Toten, des Haltes der Nebenmänner beraubt, umfielen und auf die Gleise rollten. Steife Puppen. Erfroren, verhungert, vor Erschöpfung leergeblasen. Hüllen nur, in denen einsam das Herz schlug, bis es im dünnen Blut erstickte.
    Darum – Zeit gewinnen, den Russen aufhalten, bis die Mehrzahl der unschuldigen Mütter und Kinder das rettende Reich als Halbtote erreichten. Die Züge, die Munition und Truppen nach vorn brachten, fuhren mit einer traurigen Last wieder zurück … auf jedem Bahnhof wurden die Toten ausgeladen. Viele Greise, einige Frauen, eine unzählbare Menge Kinder. Säuglinge, in den blau gefrorenen, erstarrten Händen noch die Schnuller haltend oder eine Puppe oder eine Rassel … eine letzte Freude vor

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