Schicksal aus zweiter Hand
warmem Wasser speiste und zu ihm sprach wie zu einem Kinde.
Das atmende Leben unter seinen Händen machte Gerholdt ruhiger und klarer in seinen Gedanken. Er stand wieder am Anfang seines Lebens, ärmer als an jenen Tagen, an denen er im Hamburger Hafen morgens um fünf Uhr hungrig um die Lagerschuppen strich und gegen sieben Uhr von den Ladebossen Arbeit für wenige Stunden bekam. Die Jahre, die vorbeigegangen waren, verwehten mit dem Schnee, der draußen vor der Scheune über das weite Land jagte.
Die Fabrik war zertrümmert. Die Fetzen der Hallen schwammen im Rhein davon, die Maschinen wirbelten durch die Luft, zerrissen und ein Gebirge von grünlackiertem Stahl. Die Bankkonten im Ausland waren gesperrt, das Geld auf den deutschen Banken weniger wert als ein Haufen Steine, denn mit Steinen konnte man bauen, nicht aber mit den Fetzen Papier, auf denen Zahlen standen, die keiner mehr zahlte oder bewertete. Die Villa am Rhein, halbzerstört, verrottete. Rita verendete in den Weiten des ostpreußischen Landes. Sie starb nicht … sie verendete, in einer Ecke, an der Straße, im Graben, in einer Schneeverwehung, vor einem Strohballen, unter den Händen sowjetischer Soldateska …
Nur einer würde überleben, das wußte Frank Gerholdt in diesen nächtlichen Stunden, in denen er im Stroh lag, den leise atmenden Pferdekopf vor sich an der Brust. Nur einer würde herauskommen aus dieser irdischen Hölle und weiterleben … Er, Frank Gerholdt. Ihm würde das Leben bleiben, denn es gab für ihn nach diesem Überleben keine größere Strafe mehr als das Leben.
Der größte Verbrecher, der schrecklichste Mörder wurde in allen Zeiten mit dem Tode bestraft. Frank Gerholdt aber würde weiterleben. Gott wußte, wie man einen Menschen schlägt und seine Sünden rächt. –
Als die eisige Nacht vorüberging, fast schlaflos, denn die Erschöpfung war nicht stärker als der Fluß der Gedanken, der Gerholdts Inneres durchströmte, erhob er sich und trat hinaus in die fahle Dämmerung.
Der Sturm hatte sich gelegt … durch einen trüben Himmel, unter dem noch eine Sintflut von Schnee hing, würde sich die Sonne durchquälen und einen kleinen Schimmer über die Schneeweiten zaubern. Ein leuchtendes Leichentuch, das einmal den kleinen Wagen zudecken würde … hundert … zweihundert … dreihundert Kilometer weiter.
Dreihundert Kilometer – welche Strecke!
War nicht der Mond eher zu erreichen als die Grenze?
Frank Gerholdt wandte sich ab. Die Kälte durchdrang seinen Pelzmantel. Er zog den Schal, den er um den Kopf gebunden hatte, breiter um die Ohren und trat in die Scheune zurück.
Rita und Frau v. Knörringen schliefen noch. Eng zusammen lagen sie inmitten der Federbetten, warm und tief atmend. Ein würgendes Gefühl stieg in Gerholdt empor, als er Rita so liegen sah. Mein Kind, dachte er. Wie hätte ich jemals geglaubt, ein Kind so lieben zu können … Er biß sich auf die Lippen und zwang sich, nicht zu weinen. Es überkam ihn plötzlich, es stieg in ihm empor und drängte nach außen – die Lust, laut weinen zu müssen, zu schluchzen, sich zu befreien von dem inneren Druck, der gegen das Herz drückte, gegen die Lungen, gegen die Kehle.
Der Kopf des Pferdes stieg aus dem Stroh empor. Es sah ihn an, wissend, daß mit dem Tag die neue Qual begann.
»Wir müssen, mein Junge«, sagte Gerholdt stockend und mit schwankender, weinerlicher Stimme. »Wir sind zu feig zum Sterben und hängen an diesem kleinen Fetzchen Leben, das uns geblieben ist. – Komm, mein Junge.«
Er beugte sich herunter und streifte das Halfter über den geduldigen Kopf. An ihm zog er das Pferd empor und führte es hinaus, wo der Wagen stand. Vereist, ein Filigran aus Eiszapfen, bizarr und schön, grausam und herrlich zugleich. Das Gefährt des Todes …
»Komm, mein Junge. Komm.« Frank Gerholdt drückte das Pferd in die Deichsel und schirrte es an. Die gefrorenen Lederriemen scheuerten das Fell, der Atem gefror wieder an den Nüstern zu kristallenen Perlen.
Von ganz ferne hörte er Kanonendonner. Wie ein weites Gewitter, das über fremde Länder zieht.
»Sie dürfen nicht schneller sein als wir«, sagte Gerholdt zu dem Pferd. »Wir müssen ihnen davonlaufen –«
Er ging zurück in die Scheune. Rita und Frau v. Knörringen schliefen noch. Sie hatten den Aufbruch nicht gehört. Zu tief war die Erschöpfung. Was sind wenige Stunden Schlaf, wenn sich der ganze Körper nach Ruhe sehnt … Frank Gerholdt blutete das Herz, als er Rita wecken mußte.
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