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Schicksal aus zweiter Hand

Schicksal aus zweiter Hand

Titel: Schicksal aus zweiter Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Leiterwagen, die Handwagen, die Greise, Mütter und Kinder einfach in die Straßengräben, auf die Felder, in die gefrorenen Sümpfe.
    »Platz für die Truppen!«
    »Platz für Nachschub!«
    Aber sie rollten nicht nach vorn … sie rollten zurück. Die Front war aufgelöst, die Flucht die einzige Rettung.
    Hinter ihnen raste ein Gespenst her, schrecklicher als die Dürerschen Bilder der Apokalypse: der Russe! Der Russe!
    Frank Gerholdt umritt diese Straßen. Er wußte, daß man auch sein Pferd beschlagnahmen würde. Als er über einen Feldweg ritt, sah er auf der Erde eine weggeworfene Maschinenpistole liegen. Eine Waffe mit drei gefüllten Magazinen. Er hielt das Pferd an und kletterte trotz seiner wahnwitzigen Schmerzen aus dem Sattel, hing sich die Maschinenpistole um den Hals, schwang sich mit zusammengebissenen Zähnen wieder auf das Pferd und trieb es wieder an … mit Schlägen, mit Tritten, mit Fausthieben zwischen die Augen.
    Weiter … nur weiter … Angerburg ist noch weit … so weit. Aber der Russe ist nah … er kommt … er rast wie ein Taifun über das Land.
    Rita – – – o Rita – – – Wenn diese Tage keine Buße sind für alles, was ich getan habe, gibt es keinen Gott!
    Er ritt noch fünf Tage. Er ritt wie ein Gespenst durch die aufkommenden Schneenebel, über das Eis einsamer Seen, durch die verträumte Herrlichkeit verlassener Winterwälder. Einmal sah er neben einer Straße mitten in einem Wald ein Kind im Schnee liegen. Es war halb verweht. Blonde Locken. Ein kleiner, noch roter Mund. In den Händen hielt es eine Puppe fest umklammert. Aber das weiße Gesicht war ernst, fast alt im grenzenlosen Leid, in dem das kleine Leben verlöschte.
    Frank Gerholdt wandte den Kopf zur Seite und raste weiter. So wird Rita aussehen … so wird sie eines Tages an der Straße liegen, erfroren, mit den langen, blonden Locken im Schnee, den Mund verkniffen … Und russische Panzer werden über sie hinwegdonnern und den kleinen Körper in die Erde drücken.
    Gott, mein Gott – – – geht deine Welt unter …?
    Nach einem Wahnsinnsritt von neun Tagen erreichte er Angerburg.
    Er fiel vom Pferd in den Schnee und kroch die letzte Strecke wie ein Tier.
    »Rita!« schrie er grell, als er das Haus Frau von Knörringens erreichte. »Rita! Rita!«
    Von Ortelsburg her schossen die Russen. Stalinorgeln, Artillerie … dazwischen das Hämmern der Maschinengewehre und das helle Abschußbellen der Granatwerfer. Die Front stand bei Angerburg … unter der Schneedecke war die Dorfstraße aufgerissen, durchsetzt mit Trichtern.
    Während er über die Dorfstraße kroch, folgte ihm das Pferd mit einknickenden Beinen und hängendem Kopf, in dem abgestorben die Augen hervorquollen. Aber es ging ihm nach, es folgte seinem Herren aus dem dumpfen Instinkt heraus, bei ihm zu sein, weil er eben der Herr ist.
    Mit einem Schrei, der nicht mehr menschlich war, sondern aus den Urgründen der Natur zu dringen schien, fiel er in der Diele des Hauses Rita in die Arme und schloß die Augen. Er sah noch im Hinfallen ihre großen, blauen, glücklichen Augen, er sah noch das Aufleuchten ihres blonden Haares, er hörte noch – – – weit, weit weg wie ein leises Wehen – ihren Aufschrei: »Papi! Papi!« – dann nahm ihn die Nacht ganz fort.
    Papi – dachte er noch. Sie hat Papi gerufen. Das bin ich! Das bin ich wirklich. Papi – – –
    Frau von Knörringen und Rita trugen den Ohnmächtigen in die Schlafkammer und flößten ihm gewaltsam Weichselkirschen-Schnaps zwischen die trockenen und vom Eiswind aufgerissenen Lippen. Dann deckten sie ihn bis zum Hals zu, heizten den alten eisernen Ofen mit den letzten trockenen Holzscheiten und warteten auf sein Erwachen.
    Er schlief einen ganzen Tag.
    Angerburg wurde von der russischen Fernartillerie beschossen … Gerholdt erwachte nicht. Erst am Abend des nächsten Tages öffnete er die Augen und richtete sich verwundert auf. Aber als er in das Gesicht Ritas sah, sank er wieder zurück und hob beide Arme.
    »Rita –«, sagte er leise. »Mein kleiner Liebling – – –«
    »Papi – – –«
    Sie drückte ihren Kopf an seine Wange und streichelte seine weißen Haare. Er legte den Arm um sie und preßte sie an sich. Glück durchströmte ihn, ein Glück, das nicht nennbar ist und das er nie empfunden hatte in seinem bisherigen Leben. Er umklammerte Rita wie ein Ertrinkender und schloß die Augen. Mein Kind, dachte er. Wirklich mein Kind. Es ist unheimlich … aber ich könnte für sie

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