Schicksal des Blutes
gespenstische Stille des Gebäudes. Einer musste die Tür mental entriegelt haben. Umsichtig hasteten sie über den glänzenden Parkettboden, an unzähligen Schreibtischen mit Monitoren vorbei. Endlose Regalreihen zogen an ihnen vorüber, bis sie die für Besucher unzugänglichen Aufbewahrungsräume erreichten. Ein Geruch nach Zitronenputzmittel und altem Papier kroch Amy in die Nase.
Amy neigte sich zu Ny’lanes Ohr. „Dein Vampirduft. Du riechst nach Weihrauch, nicht wahr?“ Amy spürte, wie sich seine rasche Schrittfolge kaum merklich veränderte. Nach einer Biegung blieb er wie alle anderen im Dunkeln stehen und ließ sie behutsam hinunter. Seine Finger schoben sich über ihre Arme auf ihren Rücken und er drückte sie fest und vor Beherrschung zitternd an sich. Sein Mund wühlte sich in ihr Haar.
„Du nimmst ihn wahr …“, flüsterte er und schluckte. „Oh Amy, warum nur habe ich so viel Zeit vergeudet? Ich hole sie uns zurück … wenn es in meiner Macht steht. Die Ewigkeit mit dir wäre nicht genug.“ Nyl presste seine Lippen leidenschaftlich auf ihre. Aus ihm sprach, was auch Amy empfand. Sehnsucht und Zuneigung, aber vor allem die unausgesprochene Furcht, alles zu verlieren, bevor sie überhaupt die Chance gehabt hatten, ihre Liebe zu genießen. Mit einem Ruck löste er sich von ihr. „Wir müssen weiter!“
„Sollen wir sie hierlassen?“, erklang die Stimme des Gargoyles aus einem für Amy stockfinsteren Gang. Er konnte nur die Oma meinen.
„Wir verdanken Lilith unser Leben. Was auch immer sie vorher angestellt hat, sie hat den Engel abgelenkt, bis wir gelandet sind. Noch ein paar Blitze und wir wären über dem Meer zerschellt. Sie bat uns, auf den Körper aufzupassen.“ Amy zwang ihre tiefen Gefühle für Ny’lane in die verborgene Kammer, in der schon ihre Todesangst weggesperrt lauerte. „Wenn es dich nicht stört, sie zu tragen?“
Der Steinkoloss lachte leise. „Ich spüre sie nicht einmal. Gut, dann geht zur Seite.“
Kaum hatte Elassarius seine Warnung ausgesprochen, drückte Nyl sie schützend an seinen Körper. Ein Donnerschlag hallte und vibrierte durch den Korridor. Putz rieselte von der Decke, als plötzlich feuerrote Laserstrahlen den Gang und das riesige Loch in der Wand erhellten. Elassarius‘ Magmaaugen brannten sich wie tausendfach stärkere Bunsenbrenner durch Beton und das dahinterliegende Felsgestein, bis etwas mit gewaltigem Poltern aus dem Felsen ins düstere Innere brach. Das rote Licht der Augen erlosch, mit der Finsternis strömte eine beklemmende Stille aus dem Tunnel und brachte eisige, abgestandene Luft mit sich, die Amy wie der Hauch des Todes eiskalt über den Rücken floss. „Verdammt, ich seh nichts“, murrte Amy.
„Dann musst du endlich mal Vampirblut trinken“, sagte Sam neben ihr mit einem leichten Lächeln in der Stimme.
Sie krochen nacheinander über Geröll durch den Gang, Amy ebenso blind wie Nyl, der sie am Ende mit beiden Händen in Empfang nahm. Amy hustete, weil die Luft stickig und staubig war.
„Du bleibst hier und wartest auf uns“, sagte Ny’lane.
Amy suchte ein Taschentuch und zückte ihr Smartphone. Der blasse Schimmer des Handylichtes erhellte die ersten Stufen einer uralten, aus dem Stein gehauenen Treppe. „Von wegen.“ Amy folgte Elassarius hinab in die ungewisse Dunkelheit. Staub von Jahrtausenden wirbelte auf. „Wir haben keine Zeit zu vertrödeln.“
Die kühle, aufsteigende Luft konnte einen das Fürchten lehren. Amy legte sich das Tuch vor den Mund. Nach hundert Stufen, die sie gezählt hatte, um nicht das Gefühl für die Entfernung zu verlieren, hielt sie es nicht mehr aus. Sie stellte die Frage nach dem Grund für diesen Abstieg in die unendliche Tiefe und rechnete mit einer ausführlichen Antwort aus dem fundierten Wissen des Gargoyles. Umso mehr verwunderte es sie, als Nyl hinter ihr das Wort erhob.
„In der mythischen Vorstellung der Ägypter entstand alles Leben aus dem Urmeer. Die alljährliche Nilflut versinnbildlicht ihre Schöpfungsgeschichte. Die Fluten senken sich und geben fruchtbares Land mit gewaltigen Hügeln frei. Ihr Land, die Urhügel, symbolisieren die Wiederkehr des Lebens. Deshalb erbauten die Ägypter auch Hügel auf den Gräbern ihrer Verstorbenen. Sie wuchsen immer weiter gen Himmel, bis sie es vollbrachten, perfekte Pyramiden zu bauen. Unter ihnen errichteten sie für ihre Pharaonen riesige Paläste, die nur als Grab dienten. Ihnen sollte es beim Übertritt an nichts mangeln, weder
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