Schicksal in seiner Hand
Klinikgarten. Sie mußten eine ganze Weile gehen, bis sie zu einem langgestreckten flachen Barackenbau kamen. Der Weg führte an fast allen Kliniken vorbei.
Direktor Kunze blieb stehen.
»Es sieht nicht gerade einladend aus, unser Ärztehaus. Es wurde gleich nach dem Krieg gebaut, eine amerikanische Stiftung. Es müßte längst erneuert werden. Uns schwebt ein moderner, schöner Komplex vor. Die Arzte sollen es gut haben. Sie leisten ja schließlich die Hauptarbeit in unserem Krankenhaus.« Er warf einen Seitenblick auf Dr. Bruckner. »Wenn Sie bei Ihrem Onkel mal ein gutes Wort einlegen könnten? Bislang wurden uns nämlich die Mittel für einen Neubau nicht bewilligt.«
Er klingelte. Es dauerte geraume Zeit, bis eine dickliche ältere Frau mit mürrischem Gesicht öffnete. Als sie jedoch den Verwaltungsdirektor erkannte, lächelte sie sofort pflichtschuldigst.
»Mahlzeit, Herr Direktor.«
Mit unverschämter Penetranz musterte sie Dr. Bruckner.
»Das ist Ihr neuer Mieter, Fräulein Marthe«, stellte Direktor Kunze vor. »Ich erzählte Ihnen schon davon. Er ist der Neffe unseres Herrn Generaldirektors Bruckner.«
Das Lächeln auf dem Gesicht der rundlichen Person wurde noch breiter. Sie wischte sich die Hand an der Schürze ab, bevor sie sie Dr. Bruckner reichte.
»Willkommen in Haus fünfzehn! Herzlich willkommen!« Sie machte förmlich einen Knicks. »Wenn Sie etwas benötigen, wenden Sie sich nur an mich. Darf ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen?«
Fräulein Marthe eilte den Herren voraus einen langen, engen Gang entlang. Schließlich riß sie eine Tür auf, schaute hinein, schüttelte den Kopf und schlug die Tür wieder zu.
»Da haben die Mädchen doch tatsächlich noch nicht aufgeräumt! Es tut mir leid …« Hilfesuchend sah sie den Verwaltungsdirektor an. »Aber Sie wissen ja selbst, wie wenig Personal wir haben. Ich brauche unbedingt noch ein zweites Mädchen hier, allein für die Ärzteabteilung.«
Sie wandte sich wieder an ihren neuen Mieter: »Vielleicht erzählen Sie es mal Ihrem Onkel. Solch hohe Herren kennen ja nie die wirklichen Verhältnisse. Wenn er Sie mal besucht, führen Sie ihn nur ruhig überall herum. Ich werde ihm schon erzählen, was wir brauchen.«
Thomas Bruckner schob sie einfach beiseite und betrat das nicht sehr geräumige Zimmer. Die Möbel waren schlicht, aber praktisch. Vor dem Einheitsschreibtisch stand der Einheitsstuhl. In einer Ecke stand die Einheitscouch, und hinter einem Vorhang verbarg sich eine winzige Kochnische. In Gedanken möblierte er um, stellte diese oder jene Kleinigkeit hinein und hängte ein paar Bilder an die Wand. Dann ging er zum Fenster und schaute hinaus.
Hohe Bäume standen davor. Eine große Rasenfläche schloß sich an, die von Buschwerk begrenzt wurde. Der Ausblick war unbestritten das Schönste an diesem Zimmer. Bruckner öffnete die Fensterflügel. Es war wohltuend ruhig draußen; von ferne ertönte leiser Gesang von Kinderstimmen.
Der Verwaltungsdirektor war zu ihm getreten. Sein kurzer, dicker Zeigefinger, auf dem ein großer Brillantring wie ein glitzerndes Hühnerauge saß, wies in die Ferne.
»Der einzige Nachbar ist dort hinten die Kinderklinik«, erklärte er. »Hören Sie die Kinder singen? Aber die werden Sie kaum stören. Sonst haben Sie wirklich eine himmlische Ruhe, Herr Doktor.«
»Ja, es ist ein kleines Paradies!« versicherte die Betreuerin hinter ihm.
Es gibt wahrlich kein Paradies ohne Schlange, dachte Dr. Bruckner resigniert und gönnte dem überraschten Fräulein Marthe zum erstenmal ein flüchtiges Lächeln.
Der Klinikchef saß zusammengesunken da. Finster brütete er in tiefen Gedanken. Plötzlich schrillte das Telefon. Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Laufschwester aus ihrer Erstarrung erwachte, zum Apparat ging und den Hörer abnahm.
»Es ist für Sie, Herr Professor.«
Er hob den Kopf. Seine Gesichtszüge strafften sich. Schwerfällig stand er auf und ging zum Telefon. Die Schwester hielt ihm den Hörer ans Ohr.
»Bergmann.«
Er lauschte. Während die schweigende ›Versammlung‹ ihn gespannt beobachtete, verfiel sein Gesicht wieder und wurde aschgrau.
»Danke«, sagte er und gab der Schwester ein Zeichen, den Hörer wieder auf die Gabel zu legen. Mit schleppenden Schritten ging er zum Operationstisch zurück.
»Vertiefen Sie bitte die Narkose.«
Er wartete, bis Dr. Rademacher seinen blonden Haarschopf hinter der Abdeckung zeigte. »Die Patientin schläft wieder tiefer. Sie können weitermachen, Herr
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