Schicksal in seiner Hand
schließlich. »Ist etwas passiert?«
Als Schwester Angelika nicht sofort antwortete, griff er nach ihrer Hand. »Ist sie tot?«
Gisela begann plötzlich zu weinen. Nicht wie Kinder es sonst tun, laut und geräuschvoll – es war ein hilfloses Wimmern, das zu Herzen ging. Schwester Angelika holte eine Schachtel Pralinen aus dem Schreibtisch und bot den Kindern daraus an.
Aber beide machten keine Anstalten, etwas zu nehmen.
»Ihre Frau ist noch im Operationssaal.« Beruhigend drückte sie Albert Kleiber die Hand. »Es geht ihr nicht gut. Nicht besonders gut«, verbesserte sie sich sofort, als sie die Angst in den Augen des Mannes sah. »Der Befund ist schwerer, als wir ursprünglich glaubten. Man muß ihr den ganzen Magen herausnehmen.«
»Den ganzen Magen?«
»Professor Bergmann ist Spezialist auf diesem Gebiet. Wenn er eine solche Operation durchführt, ist sie schon so gut wie gelungen.«
Schwester Angelika wußte nicht, was sie noch sagen sollte. Das Leid dieser Menschen rührte sie zutiefst. Mit einem mütterlichen Lächeln streichelte sie den Kindern die Wangen.
»Ist es Krebs?« würgte Albert Kleiber schließlich hervor.
»Ich weiß es nicht.«
»Es ist Krebs!« sagte er halblaut vor sich hin und schüttelte in verzweifeltem Nichtbegreifen immer wieder den Kopf.
Dann war es eine Weile still in dem kleinen Raum – beängstigend still. Auch Giselas Wimmern hatte aufgehört. Erschrocken starrte sie ihren Vater an, dessen Blick wie hypnotisiert an einem Wandkreuz hing.
Plötzlich ließ er die Hände seiner beiden Kinder los und ging mechanisch, wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, auf das Kruzifix zu. Sekundenlang verharrte er davor in stummer Betrachtung. In seinen Gedanken wiederholte er wieder und wieder:
Hilf ihr, mein Gott, so hilf ihr doch! Laß sie nicht sterben! Es ist meine Schuld, alles ist meine Schuld … daß sie arbeiten mußte und nicht eher zum Arzt ging … daß sie … meine Schuld!
Erschüttert wandte sich Schwester Angelika ab. Hier war ein tröstender Zuspruch vergebens. Sie wußte, daß diesem Mann jetzt nur eine höhere Macht helfen konnte.
Willig folgten die Kinder ihrem Wink. Sie fürchteten sich plötzlich vor diesem völlig veränderten, fremden Vater. Auf Zehenspitzen schlichen sie mit der Schwester aus dem Raum.
»Ich weiß nicht, was das heute ist.«
Wieder versuchte Oberarzt Wagner den Darm mit der Speiseröhre zu verbinden und – abermals schnitt der Faden das Gewebe durch.
»Wie ist der Blutdruck?«
»Einhundertzwanzig zu siebzig!« Dr. Rademacher schaute auf das Operationsgebiet. »Der Puls ist wieder zufriedenstellend.«
»Sehen Sie«, höhnte der Oberarzt, »es geht auch ohne Bluttransfusion.«
Der Narkosearzt tauschte einen vielsagenden Blick mit der Operationsschwester, den Dr. Wagner allerdings nicht bemerkte.
»Sollen wir den Chef benachrichtigen?« fragte ein Assistent schließlich, als der Oberarzt verzweifelt den inzwischen völlig zerfransten Darm anstarrte.
»Sind Sie wahnsinnig geworden?« brüllte Wagner ihn an. »Soll ich mir eine solche Blöße …«, er schluckte, »sollen wir den Chef ausgerechnet jetzt belästigen? Es geht ihm nicht gut, und außerdem kann ich ja …« Er brach mitten im Satz ab.
Die Tür hatte sich geöffnet. Professor Bergmann stand im Raum. Langsam schritt er auf den Operationstisch zu. Man merkte ihm die ungeheure Anstrengung deutlich an. Hinter dem Oberarzt blieb er stehen und schaute ihm über die Schulter. Dr. Wagner trat beiseite, um dem Professor das Blickfeld freizugeben.
»Es ist ein … ein seltsam morscher Darm.« Er stotterte vor Aufregung. »Und auch die Speiseröhre reißt dauernd ein. Da …« Er zog erneut an einem Faden. Wieder schnitt er durch.
Der Professor schob den Oberarzt weg. Es war kein sanftes Schieben, es war mehr ein Fortstoßen mit dem Ellenbogen.
»Ich habe alle möglichen Nahttechniken probiert, Herr Professor …« Dr. Wagner redete unentwegt. Er versuchte, damit seine Unsicherheit zu überspielen. »Alles vergebens. Wahrscheinlich ist das Gewebe von der Krankheit schon derart angegriffen, daß keine Naht mehr hält.«
Bergmann sagte kein Wort. Mit geschickten Händen schnitt er und nähte zusammen. Die Nähte hielten. Der Dünndarm verband sich mit dem unteren Ende der Speiseröhre. Es sah so natürlich aus, als wäre es nie anders gewesen.
Alle hielten vor Staunen den Atem an.
»Wir haben aber wenigstens keine Bluttransfusion gebraucht«, fing der Oberarzt
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