Schicksal in seiner Hand
sind und man sich noch gesund fühlt. Heute auf den Tag sind genau fünf Jahre rum bei mir!«
Bergmann legte ihm die Hand auf die Schulter. Er atmete schwer. »Ich nehme Ihr Geschenk an, Herr Steinfurth. Ich freue mich. Alles Gute weiterhin.«
»Danke, Herr Professor! Besten Dank! Wenn Sie länger in München bleiben und ein Taxi brauchen … der alte Steinfurth ist immer da. Sie können jederzeit anrufen.« Er griff in die Tasche und holte eine Karte hervor, die er dem Professor mit einer Verbeugung überreichte.
»In Ordnung, Steinfurth! Leben Sie wohl!«
Brüsk wandte sich der ›alte Löwe‹ ab. Er wollte noch etwas sagen, aber die Rührung übermannte ihn. Sein Krückstock stieß hart auf das Pflaster.
Das gesuchte Haus lag am äußersten Ende der Straße. Es sah nicht besonders gepflegt aus. Ein schlichtes Emailschild verkündete:
Dr. Walter Schneider
Facharzt für Röntgenologie
Sprechstunden 10-12 Uhr
Alle Kassen
Professor Bergmann schaute auf die Uhr. Es war halb elf. Kurz entschlossen betrat er das Haus. Im Gang blieb er plötzlich stehen und lehnte sich an die Wand.
Was hatte Steinfurth gesagt? Zufällig hätte er seine Diagnose entdeckt … Krebs … Die Arzte sagen einem ja doch nie die Wahrheit … Würde ihm Kollege Schneider die Wahrheit sagen, die volle Wahrheit? Wie oft hatte er selbst seinen Patienten gegenüber eine fromme Lüge gebraucht, wenn die Diagnose einem Todesurteil gleichkam …
Er schüttelte den Kopf. Nein, so ging es nicht! Er mußte es anders versuchen bei diesem Röntgenarzt Dr. Schneider. Aber wie?
Professor Bergmann verließ das Haus und stakste langsam die Straße entlang. An der Kreuzung standen Taxis. Beim Chinesischen Turm stieg er aus und bog in einen Fußweg ab. Um diese Tageszeit war die beliebte Parkanlage noch wenig besucht.
Bald fand er eine freie Bank und ließ sich darauf nieder. Das Gehen fiel ihm heute besonders schwer, auch die Schmerzen in seinem Leib hatten wieder eingesetzt. Er nahm eine Tablette.
Die Herbstsonne schickte goldene, wärmende Strahlen. Er lehnte sich etwas zurück und schloß die Augen. Wie aus weiter Ferne hörte er das Gezwitscher der Vögel, Hundegebell, Kinderstimmen und den knirschenden Sand, wenn jemand vorüberging.
Plötzlich kam ihm eine Idee.
Er richtete sich auf, nahm seine Brieftasche heraus und suchte nach einem Rezeptformular. Als er es gefunden hatte, winkelte er das gesunde Knie an und benutzte es als Schreibunterlage. Er überlegte angestrengt, den Füller in der Hand. Dann formulierte er:
»Sehr geehrter Herr Kollege!
Ihr ehemaliger Schüler und Assistent Dr. Bruckner hat mich auf Sie aufmerksam gemacht. Darf ich Ihnen heute einen etwas schwierigeren Fall schicken? Es handelt sich um einen Patienten mit einer Pylorusstenose. Ich halte es für ein stenosierendes Ca. Es könnte aber auch ein kallöses Ulcus sein. Bitte geben Sie Befund und Bilder dem Patienten ausnahmsweise gleich mit. Mit kollegialen Grüßen Ihr Bergmann.«
Nach längerem Suchen fingerte er sogar einen etwas lädierten Umschlag hervor, schob das bekritzelte Rezeptformular hinein und klebte ihn sorgfältig zu.
»Schönes Wetter heute!«
Robert Bergmann blickte unwillig hoch. Vor ihm stand ein ziemlich verwahrlost aussehender alter Mann. Er hatte den zahnlosen Mund etwas geöffnet und starrte ihn mit unverhohlener Neugierde an. Dann machte er Anstalten, sich neben ihn zu setzen.
Bergmann war eisige Abwehr. Ekel stieg in ihm hoch – nicht nur wegen des Äußeren dieses Fremden, er haßte alte Männer überhaupt und konnte ihre Nähe nicht ertragen. Sein Streben war noch immer auf Jugend, Schönheit, Vitalität gerichtet. In einer solchen Umgebung fühlte er sich wohl. Schließlich war er ja selbst noch voller Energie und Schaffenskraft …
War er das wirklich noch?
»Sind Sie zu Besuch in München?« fragte der Alte lauernd und rückte vertraulich näher. »Ich habe Sie jedenfalls noch nie im Englischen Garten gesehen. Wir alten Männer kennen uns nämlich alle hier, müssen Sie wissen. Wir begegnen uns immer wieder auf unseren Spaziergängen. Ja, ja!« Er lachte heiser.
Der Professor wollte angewidert aufstehen, doch der Fremde legte ihm die Hand auf den Arm.
»Bleiben Sie noch ein bißchen. Was sollen wir Alten denn sonst tun, als miteinander reden? Wir haben doch niemand, und niemand will uns.« Er bemerkte den Ehering an Bergmanns Hand. »Ach, Sie sind noch verheiratet! Das ist was anderes. Es ist schön, zusammen alt zu werden.
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