Schicksal in seiner Hand
ihn verständnislos an, überlegte und schüttelte dann den Kopf. »Professor Bergmann – kenne ich nicht. Wo hat denn der seine Praxis?« Zögernd nahm sie den Brief entgegen und warf einen Blick auf den Absender. »Ach, der Professor lebt nicht in München. Ich kann den Brief ja schon mal hierbehalten und Sie vormerken. Was soll denn bei Ihnen durchleuchtet werden?«
»Der Magen.«
»Das könnte Doktor Schneider heute sowieso nicht mehr machen. Das hält viel zu lange auf.«
Sie gab den Eingang frei. Bergmann folgte ihr in die Diele. Als die Schwester sah, daß er eine Beinprothese trug, bot sie ihm einen Stuhl an. Dann blätterte sie in ihrem Terminkalender.
»Sagen wir … hm … morgen um elf Uhr dreißig. Ja? Wie war doch der Name?«
Bergmann zögerte. Was sollte er angeben?
»Wagner«, sagte er schließlich, »Theo mit Vornamen.«
Die Schwester notierte. Dann klappte sie das Buch zu und hob mahnend den Finger.
»Aber seien Sie pünktlich, und kommen Sie nüchtern. Vor einer Magendurchleuchtung darf man nichts essen.«
Er nickte nachdenklich. »Ja, ja.«
Ein Arzt mittleren Alters, mit der roten Röntgenbrille vor den Augen, trat aus seiner Tür und fragte:
»Ist noch was, Schwester?«
»Nein!« Dann fiel ihr Blick auf den zusammengesunkenen weißhaarigen Mann, der sich eben mühsam erhob. »Der Patient ist noch zu einer Magendurchleuchtung gekommen. Ich habe ihn für morgen bestellt. Ein Professor Bergmann schickt ihn.«
»Ach, Bergmann.« Dr. Schneider wandte sich an den Besucher. »Einen Augenblick!« Mit ein paar Schritten stand er neben ihm. »Professor Bergmann schickt Sie? Lebt der denn noch? Der muß doch inzwischen uralt sein. Woher kennt der mich denn?«
Er riß das Kuvert auf, das ihm die Schwester gab, und überflog den Inhalt des Schreibens. Während er las, ging ein Leuchten über sein Gesicht. Er zeigte der Schwester den Brief.
»Kollege Bruckner hat mir den Patienten geschickt.«
Interessiert betrachtete er den Professor. »Hat Dr. Bruckner Sie untersucht?«
Bergmann nickte. Es berührte ihn eigenartig, daß sein Assistent, sein aufgezwungener Assistent, hier offensichtlich mehr zählte als er, der international anerkannte Chirurg.
»Er hat einige sehr gute Arbeiten veröffentlicht, der Professor. Ich kenne ihn nur aus der Literatur und habe immer gemeint, er sei schon tot … Es ist übrigens merkwürdig«, sagte Dr. Schneider mehr zu sich selbst, »sobald einer im Leben etwas geleistet hat, meint man immer, er müsse schon tot sein. Vielleicht, weil es zu wenige Menschen gibt, die wirklich etwas Besonderes leisten.«
Er wandte sich an den Patienten. »Entschuldigen Sie, das sind so Reflektionen, die man anstellt. Hat Sie Dr. Bruckner hergeschickt oder der Professor?«
Bergmann überlegte einen Augenblick. Die Lüge wollte ihm schwer über die Lippen kommen.
»Dr. Bruckner hat mich geschickt«, sagte er schließlich und senkte den Blick.
»So, hm.« Dr. Schneider zögerte.
»Was meinen Sie, Schwester, sollen wir den Patienten noch rasch vornehmen? Ich bin noch adaptiert.«
Dann fragte er den Professor. »Sind Sie noch nüchtern?«
»Ich habe seit Tagen keinen Bissen bei mir behalten können.«
Die Schwester nickte. »Wenn wir Dr. Bruckner damit einen Gefallen tun können.«
»Gut, kommen Sie.« Dr. Schneider öffnete die Tür zu einer kleinen Umkleidekabine. »Bitte, machen Sie den Oberkörper frei.«
Die Tür wurde geschlossen.
Erschöpft sank der alte Professor auf einen Hocker. Ihm war zumute wie einem Delinquenten, der auf den Henker wartet.
9
Dr. Bruckner öffnete die Tür mit der Aufschrift ›Poliklinik‹ und – prallte entsetzt zurück. Im Korridor drängten sich die Kranken. Sie saßen auf langen Holzbänken, lehnten an der Wand oder gingen auf und ab. Sie schwatzten, stöhnten und rauchten.
Manche begannen schon, ihre blutverkrusteten Verbände zu lösen. Vorsichtig, denn es schmerzte, zogen sie daran und sanken schließlich mit einem Seufzer der Erleichterung zurück, wenn sie es geschafft hatten.
Es roch penetrant nach Schweiß, Eiter, Blut, billigem Tabak und Desinfektionsmitteln. Rauchschwaden hingen in der Luft.
Der junge Assistenzarzt verharrte sekundenlang auf der Schwelle und betrachtete kopfschüttelnd dieses Bild.
Er mußte seinen ganzen Mut zusammennehmen, um diese Phalanx menschlichen Gebrechens passieren zu können. Not, Neugierde und Häßlichkeit starrten ihm entgegen. Es war ein wahrhaftes Spießrutenlaufen.
Am Ende des Ganges
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