Schicksal in seiner Hand
Meine Frau ist letztes Jahr gestorben. Sie war fast achtzig.«
»Das tut mir leid«, sagte Bergmann mit verzweifelter Höflichkeit. Hart stieß er seinen Krückstock auf den Boden und versuchte abermals, diesem Menschen zu entkommen.
»Ich vermisse sie jetzt sehr, meine Alte«, fuhr dieser unbeirrt fort. Er rappelte sich mühsam hoch und schaute sein Gegenüber herausfordernd an. »Wie alt schätzen Sie mich eigentlich?«
Fünfundneunzig, wollte der Professor gerade wütend erwidern, aber der Fremde kam ihm zuvor.
»Ich bin sechsundsiebzig«, verkündete er voller Stolz. »Das sieht mir niemand an, nicht wahr?«
»Bestimmt nicht«, gab Bergmann ironisch zurück. »Ich muß gehen. Entschuldigen Sie mich.«
»Schade! Kommen Sie bald wieder hierher. Mit Ihnen kann man sich gut unterhalten.« Der Zahnlose legte den Kopf etwas schief. »Wohin geht's denn so eilig? Nach Hause? Zu Muttern?« Er brach in meckerndes Gelächter aus.
Der Professor wandte sich noch einmal um.
»Nach Samarkand«, sagte er mit Betonung.
»Hä – nach was?«
»Zum Arzt, Sie Tr … verehrter Zeitgenosse!«
»Schau an, zum Arzt!« geiferte der Alte hinter Bergmann her. »Sie, so warten Sie doch! Wo fehlt's denn? Vielleicht kann ich Ihnen … Ich verstehe nämlich was von Krankheiten. Meine Alte … damals … und auf dem Totenschein …«
Professor Bergmann humpelte, so schnell es seine Prothese zuließ, davon.
8
»Das letzte große Haus, da wohne ich.«
Thomas Bruckner fuhr die breite Allee entlang, ließ den Wagen langsam ausrollen und stellte den Motor ab.
»Wann darf ich dich wiedersehen?«
»Ich weiß es nicht, Thomas.«
Sie sah die Enttäuschung auf seinem Gesicht, das bange Fragen in den dunklen Augen. Da kam ihr ein kühner Gedanke. Forschend schaute sie an dem Haus empor, das von alten Bäumen und Buschwerk etwas verdeckt war.
»Komm noch mit auf einen kleinen Drink … das heißt, ein Frühstück wäre besser. Ich bin hungrig wie ein Löwe.«
Rasch sprang Yvonne aus dem Wagen. »Na, was ist?«
Er schaute auf die Uhr. »Eine Stunde habe ich noch Zeit. Dann muß ich an meine Arbeit.«
»So laß uns die Stunde nützen!« erwiderte sie vergnügt und öffnete die Gartenpforte. »Wohin mußt du dann gehen? … Du schweigst? … Ach so, unsere Abmachung … Nein, nein, sag nichts! Ich darf nichts fragen. Sonst ergeht es mir wie Elsa von Brabant, die ihren Lohengrin verlor, nur weil sie neugierig und mißtrauisch gewesen war.«
Sie betraten die weiträumige Diele, in deren Mitte eine Treppe ins obere Stockwerk führte. Der Marmorfußboden war mit Teppichen belegt.
»Komm!«
Yvonne tat, als bemerke sie sein Erstaunen nicht. Sie schritt voran und öffnete eine Tür. Etwas zögernd folgte ihr Bruckner. Voller Bewunderung betrachtete er den stilvoll ausgestatteten großen Raum. Hinter dem zentral angebrachten Kamin aus roten Ziegelsteinen fiel schräg von rechts ein breiter Lichtstreifen herein. Der Raum ging nach einer Ecke in eine ausgedehnte Terrasse über, auf der nun schon strahlend hell die Morgensonne lag.
»Hast du es aber schön hier«, sagte er mit ehrlicher Bewunderung.
»Wollen wir im Freien frühstücken?« schlug Yvonne lächelnd vor, ohne auf seine Worte einzugehen. »Ich finde es warm genug, und außerdem ist eine infrarote Heizung eingebaut worden. Da können wir auch in der kälteren Jahreszeit draußen sitzen.«
»Wir?«
»Wir beide«, sagte sie schnell – etwas zu schnell, wie ihm schien. Auch ihr Lachen wirkte jetzt gekünstelt, eine Nuance zu schrill.
»Ich mache uns jetzt ein Frühstück«, lenkte Yvonne geschickt ab. »Das Mädchen schläft sicher noch, und der Chauffeur …« Sie beendete den Satz nicht und drehte sich um. »Laßt es euch an nichts fehlen, edler Lohengrin«, rief sie noch zurück. »Ihr findet alles in der Bar, gleich neben der Glastür.«
Dr. Bruckner war allein, allein mit seinem Glück und – seinen Zweifeln. Wer war sie, die hier im wahrsten Sinne des Wortes residierte? Wem gehörte der herrliche Besitz? Ihr? Lebte sie wirklich allein – bei ihrer Schönheit?
Er machte es sich in einem der zierlichen Gartensessel so bequem wie möglich und holte die geliebte Pfeife hervor. Das tut gut jetzt, es beruhigte. Wie hatte doch die junge Kollegin gestern gesagt? Ach ja … es wirkt so männlich! – Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, das aber bei dem Gedanken an die Klinik und den zukünftigen Kollegenkreis sofort wieder verschwand.
»Hallo,
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