Schicksal in seiner Hand
Oberarzt den Hörer auf. Er rieb sich die Hände.
»Der Herr Professor will ein paar Tage Urlaub machen. Er hat mich gebeten, ihn während dieser Zeit zu vertreten. Ich bin also jetzt Chef hier, Herr Bruckner. Merken Sie sich das! Zunächst bin ich zwar nur vorübergehend mit der Leitung der Klinik betraut, aber es wird bestimmt einmal der Tag kommen … Jedenfalls wünsche ich Ihnen, daß Sie bis dahin ein anderes Betätigungsfeld gefunden haben.«
Sekundenlang kreuzten sich ihre Blicke, dann wandte sich Thomas Bruckner ab und ging zur Tür. Er öffnete sie weit.
»Die ersten fünf Patienten, bitte.«
13
Der Morgen des Reisetages war schön und sonnig. Yvonne hatte beide Fensterflügel in ihrem Zimmer geöffnet. Gedankenverloren schaute sie den ziehenden Wolken nach.
Ihr Herz war schwer. Sie fühlte sich zerschlagen und wie ausgebrannt. Auch in dieser Nacht hatte sie kaum Schlaf gefunden. Ruhelos war sie auf und ab gewandert, voller Angst und Sorge.
Was wurde mit Robert?
Heute also wollten sie nach Cabasson fahren, ihre Hochzeitsreise nachholen. In den buntesten Farben hatten sie beide diesen Urlaub ausgemalt, hatten Zukunftspläne geschmiedet, gescherzt und gelacht – und waren dabei peinlichst darauf bedacht gewesen, den anderen zu täuschen, ihn in Sicherheit und Hoffnung zu wiegen.
Sollte es eine Hochzeitsreise in den Tod werden?
Gequält stöhnte Yvonne Bergmann auf, ihre Schultern sanken herab. Warum war das Schicksal so grausam, so unerbittlich? Was hatte sie verbrochen, um derart bestraft zu werden? Kann man einem Herzen befehlen?
Yvonne raffte sich mit aller Gewalt zusammen. Es galt jetzt zu handeln. Mit Tränen und Sinnieren konnte sie niemandem helfen, am allerwenigsten sich selbst.
Sie holte ihr Notizbuch hervor, suchte die Nummer des Münchner Röntgenologen und griff entschlossen zum Telefon. »Laß ein Wunder geschehn!« murmelte sie – und drehte dann mit zitternder Hand die Wählscheibe.
»Praxis Dr. Schneider«, meldete sich eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Hier …«, Yvonne überlegte fieberhaft, was sie sagen sollte, »hier spricht die Sekretärin von Professor Bergmann.« Gottlob war ihr diese Lüge eingefallen. Sie holte tief Luft.
»Ja, ich höre … Hallo, sind Sie noch da?«
»Ja, ich … Entschuldigung, ich wurde eben gestört. – Sie haben vorgestern einen Patienten von uns geröntgt. Einen älteren Herrn mit einer Beinprothese. Erinnern Sie sich?«
Yvonne spürte ihr Herz schmerzhaft schlagen. Jetzt mußte es kommen! Jetzt würde sie endlich die Wahrheit erfahren. Noch hegte sie ein winziges Fünkchen Hoffnung.
»Moment mal … Ja, jetzt entsinne ich mich … mit einer Beinprothese … er hieß … Theo Wagner, natürlich.«
»Und der Befund?« stieß Yvonne atemlos hervor.
»Leider sehr übel. Ausgedehntes Magenkarzinom. Wir hatten schon Sorge, der Patient würde nicht mehr heil nach Hause kommen.«
Stille.
»Hallo!« meldete sich wieder die Stimme aus München. »Hören Sie noch? Haben Sie mich verstanden?«
»Ja«, würgte Yvonne hervor, »nur zu gut … äh, ich meine, ich weiß, was das für meinen Ma … für den armen Wagner bedeutet. Ist ja schrecklich!«
»Ja, leider.« Die Schwester wunderte sich über die herzliche Anteilnahme dieser Sekretärin. Es schien ja beinahe, als wäre sie mit diesem Wagner verwandt. »Im allgemeinen ist ein solcher Befund inoperabel. Der Patient ist ja nicht mehr der Jüngste …«
»Und wozu würden Sie raten?«
»Dr. Schneider empfahl trotzdem eine Operation. Er schlug dafür seinen Kollegen Bruckner vor. Der ist ausgezeichnet. Vor vier Jahren hat er einen ähnlichen Fall operiert. Der Patient lebt heute noch. Aber das wird Herr Wagner Ihrem Chef sicher schon mitgeteilt haben.«
»Ja, sicher! – Sagten Sie Bruckner, Dr. Thomas Bruckner?«
»Ja. Kennen Sie ihn denn nicht?«
»Doch, natürlich kenne ich ihn. Er ist …« Yvonne legte auf.
»Hallo, hallo. Sind Sie noch am Apparat?« rief die Schwester mit überlauter Stimme und schüttelte den Hörer in ihrer Hand.
Unbemerkt war Dr. Schneider hereingekommen. Er schaute seine Sprechstundenhilfe fragend an.
»Da ist wieder mal die Verbindung unterbrochen worden«, teilte sie ihm mit und legte kopfschüttelnd den Hörer auf die Gabel. »Die Sekretärin von Professor Bergmann hat angerufen. Wegen des Magens. Sie erinnern sich doch, Herr Doktor? Wir haben ihn vorgestern geröntgt.«
»Ach so, das Karzinom! – Was wollte sie
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