Schicksal in seiner Hand
Stimme mit und ließ sich nicht verbergen. »Ich hoffe, Herr Kollege, Sie haben zur Medizin ebenso gute Beziehungen wie zum Kuratorium.«
Er nahm das Skalpell entgegen, das ihm die Schwester in die Hand schlug, setzte aber noch nicht zum Schnitt an. »Ich möchte Ihnen ein Rätsel aufgeben, Herr Bruckner. Seine Lösung liegt hier in der Tiefe. Sie ist von einem Zentimeter Haut bedeckt.« Die Spitze des Skalpells zeigte auf den gelben Leib. »Gehen Sie doch mal an das Röntgenbild da an der Wand und stellen Sie eine Diagnose.«
Es war totenstill geworden.
Langsam ging Thomas Bruckner auf den Röntgenschirm zu. Aller Augen waren voller Spannung auf ihn gerichtet. Er litt unter diesen Blicken, die nichts Gutes verhießen.
»Nun kommen Sie schon!« ertönte die hämische Stimme des Oberarztes. »Ein bißchen rascher und keine Müdigkeit vorschützen! Der Chef möchte ja schließlich anfangen.«
Thomas Bruckner ging wie im Traum. Der grünlich leuchtende Schirm mit dem Röntgenbild zog ihn magisch an. Wovor fürchtete er sich eigentlich? Hatte er nicht ein Jahr lang bei einem ausgezeichneten Röntgenologen gearbeitet? War sein Lehrer nicht der Mann, von dem behauptet wurde, er habe sich noch nie bei einer Diagnose geirrt?
Dr. Bruckner stand vor dem Schirm. Er drehte am Knopf, das Licht wurde etwas dunkler. Aufmerksam betrachtete er das Bild. Er durfte sich nicht irren. Mit dieser Diagnose stand oder fiel sein Ansehen.
Zuerst betrachtete er das große Übersichtsbild. Dann besah er sich nacheinander die einzelnen kleinen Aufnahmen, die der Röntgenologe von der kranken Stelle geschossen hatte. Er überlegte lange und verglich. Nur nicht zu rasch eine Diagnose stellen! Hier gab es kein Herausreden. Plötzlich fiel ihm der Rat seines Lehrers ein.
»Ich hätte gern ein Vergrößerungsglas, Herr Professor.«
»Ein – was?« Der ›alte Löwe‹ legte vor Erstaunen sein Skalpell aus der Hand. »Das da ist keine Briefmarke, sondern das Röntgenbild eines Magens, Herr Kollege, dieses Magens!« Er deutete auf den gelbleuchtenden Leib der Patientin.
Oberarzt Wagner lachte so laut, damit auch der Chef merkte, er habe seinen Witz verstanden und hielt ihn für gut. Als die anderen merkten, daß Lachen erlaubt war, stimmten sie schnellstens ein.
Dr. Thomas Bruckner fühlte, wie Ärger in ihm hochstieg. Am liebsten wäre er hinausgegangen und hätte diesen vor Ergebenheit innerlich wie äußerlich dienernden Kreaturen die Tür vor der Nase zugeschlagen.
3
Langsam ging Albert Kleiber mit seinen beiden Kindern den langen Korridor entlang. Der Weg kam ihm endlos vor. Gisela und Dieter hatten sich eng an ihn gedrängt, als könne er sie vor all dem Feindlichen beschützen, das sie in diesem Krankenhaus umgab.
»Wird die Mutti wieder ganz gesund werden?«
»Ja, mein Sohn«, erwiderte er. »Sie wird ganz bestimmt gesund werden.«
»Und wirst du dann bei uns bleiben?« fragte Gisela. Sie schaute den Vater mit ihren großen blauen Augen erwartungsvoll an.
Albert Kleiber fühlte einen Kloß im Hals. Er griff sich an den Kragen und zerrte daran. Er antwortete nicht.
Sie waren auf die Straße hinausgetreten. Die welken Blätter verbreiteten einen Geruch von Verwesung, von Untergang.
Auf der anderen Straßenseite stand eine junge Frau und wartete. Sie war hübsch angezogen. Ihre Augen strahlten, als sie den Mann erblickte. Sie eilte auf ihn zu.
Erschrocken wichen die Kinder zurück, als die Wartende ihrem Vater die Hand gab.
»Nun, hast du es hinter dir?«
Albert Kleiber zuckte die Schultern. Er antwortete nicht.
»Hast du ihr gesagt, daß es jetzt endgültig aus ist zwischen euch?«
Gequält sah der Mann sie an. »Ich konnte es ihr nicht sagen. Nicht jetzt. Sie wird doch operiert.«
»Und wenn schon!« Die junge Frau schüttelte unwillig den Kopf. »Was bedeutet denn heute eine Operation bei einem Magengeschwür? Nichts! Mein Vater ist auch operiert worden. Am achtzehnten Tag danach fuhr er schon wieder seinen Lieferwagen selbst.«
»Es geht ihr nicht gut.« Albert Kleiber blickte hilflos seine beiden Kinder an, die die fremde Frau aus ängstlichen Augen anstarrten.
»Ihr seid doch richtige Feiglinge, ihr Männer!« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wann wirst du es ihr nun sagen?«
»Wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen wird.« Er fuhr Gisela und Dieter mit beiden Händen über die Wuschelköpfe.
Die Frau bemerkte es mit Unbehagen. »Und was geschieht mit denen jetzt?« Sie machte eine Kopfbewegung zu
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