Schicksalsmord (German Edition)
vorbei und packte tatkräftig mit an. Wir gingen systematisch vor und ordneten alles, was uns in die Finger kam, einer von drei Kategorien zu. Die erste und größte Gruppe bildeten Sachen, die zweifelsfrei zu entsorgen waren. Sie landeten sofort im Container. Eine zweite Gruppe bestand aus durchaus noch verwertbaren Dingen, für die es jedoch in der neuen Wohnung keinen Platz geben würde. Martina lud sie in ihren alten Opel und brachte sie zu einer Bekannten, die sich regelmäßig als Händlerin auf Trödelmärkten betätigte. Unsere alten Steintöpfe aus dem Keller fanden ebenso ihren Beifall wie die kitschigen Ölschinken vom Dachboden. Die größten Probleme bereitete uns die dritte Kategorie: Ihr ordnete ich alles zu, worüber Mutter persönlich entscheiden sollte. Leider tat sie sich damit fürchterlich schwer, sortierte alles von einen Stapel auf den anderen und wollte sich von nichts wirklich trennen. Sorgen bereiteten mir auch die schweren Möbelstücke, die irgendwann auf den Dachboden geschleppt worden waren. Martina und ich entfernten Schubkästen und Regalbretter, um sie in den Container zu werfen, doch das alte Buffet und die Kommoden konnten wir ebensowenig die Treppen hinunterschleppen, wie die beiden gusseisernen Öfen, die in einer Ecke vor sich hinrosteten.
„Ach, ehe ich es vergesse, Thomas hat seine Hilfe angeboten“, sagte Martina betont beiläufig, als sie meinen ratlosen Blick bemerkte. „Er würde einen Kumpel mitbringen, einen Pfleger aus der Klinik, so einen richtigen Muskelprotz. Der trägt uns die Öfen allein runter, unter jedem Arm einen. Na komm schon, so ein Angebot schlägt man doch nicht aus“, setzte sie aufmunternd hinzu. Ihr sanftes Drängen wäre gar nicht nötig gewesen, ich war auch so entschlossen, Thomas' Hilfe anzunehmen. Ich selbst hatte schon vor langer Zeit meinen Frieden mit ihm gemacht und wie Lydia und Mutter darüber dachten, durfte mich im Moment nicht interessieren. Schließlich musste ich die anstehenden Arbeiten ohne ihre Unterstützung bewältigen.
Thomas Gondschar war mein erster Freund gewesen, was nur wenige wissen, er war Lydias erster Ehemann und somit mein Schwager, was allgemein bekannt ist, und er ist meine große Liebe, was niemand außer mir weiß und je erfahren soll. Es ist schon seltsam mit mir: Ich verliebe mich nur ganz allmählich, doch haben meine Gefühle erst einmal ihr Ziel gefunden, lassen sie es so schnell nicht wieder los. Meine Freundinnen waren da ganz anders: Ständig verliebten sie sich neu und ihre Strohfeuer waren so schnell abgebrannt, wie sie sich entzündet hatten. Vermutlich lag das auch daran, dass sich unsere Vorstellungen von Liebe grundsätzlich unterschieden. Es machte mich ratlos, wenn sie mir von ihren großen Gefühlen für einen Jungen vorschwärmten, den sie an einem Discoabend zum ersten Mal getroffen und mit dem sie durch den Lärm hindurch keine drei Sätze gewechselt hatten. „Aber du kennst den doch noch gar nicht“, war dann meine erstaunte Reaktion, die ihrerseits zu verständnislosem Stirnrunzeln führte. „Der ist total süß“, reichte offenbar als Begründung völlig aus. Dass es mir nicht ausreichte, lag vielleicht auch an meiner Außenseiterposition in der Mädchenclique. Blass und dünn, und dank der Initiative unserer Mutter auch höchst unvorteilhaft gekleidet, fühlte ich mich linkisch und unattraktiv. Von den meisten Jungen glaubte ich mich nicht ernst genommen und wappnete mich dagegen, indem ich sie meinerseits als primitiv und oberflächlich empfand.
Thomas war der erste Junge, mit dem ich mich unterhalten konnte. Er war drei Jahre älter als ich und ging mit Lydia in eine Klasse. Wir trafen in der Tanzstunde aufeinander, die von unserer Schule regelmäßig für die zehnten Klassen organisiert wurde. Thomas war dabei, weil er sich damals vor der Teilnahme gedrückt hatte und nun kurz vor dem Abiball von seinen Eltern genötigt worden war, doch noch tanzen zu lernen. Auch ich hätte mich am liebsten gedrückt, war ich doch der festen Überzeugung, keinen Partner für den Abschlussball zu finden und fürchtete die öffentliche Schmach der Verschmähten.
Thomas sah gut aus, er war groß und schlank, hatte rötlichblondes, welliges Haar, mädchenhaft zarte, mit Sommersprossen gesprenkelte Haut und graugrüne Augen. Er war jedoch furchtbar schüchtern und lief beim geringsten Anlass dunkelrot an, was ihm den Spott seiner Mitschüler eintrug. Die Tücken der Tanzstunde fürchtete er wohl
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