Schicksalsmord (German Edition)
abwinken, wollte sagen, aber Thomas, wir waren schließlich Kinder, was soll das jetzt noch – doch zu meiner eigenen Überraschung brachte ich nur ein heiseres Krächzen heraus, dann schüttelte mich unkontrolliertes Schluchzen, begleitet von wahren Tränensturzbächen. Thomas sagte nichts, er nahm mich einfach in die Arme und hielt mich ganz fest, bis ich mich endlich beruhigte. „Ich habe es oft bereut“, sagte er nur und ich fragte nicht nach der tieferen Bedeutung dieses Satzes, weder damals noch später. Wir erwähnten den Vorfall nie wieder.
Es gab damals Stimmen, die behaupteten, Lydia habe Thomas in dieser Zeit vernachlässigt. Ich habe sie immer dagegen in Schutz genommen. Lydia konnte mit Kranken einfach nichts anfangen. Selbst von robuster Konstitution, sah sie im Leiden vor allem eine Schwäche, die es zu bekämpfen galt. Sie konnte da recht ungeduldig und ungerecht werden. Doch sie hatte sich keinesfalls allein in Gießen amüsiert, während ihr Mann von seinen Eltern gepflegt werden musste, wie das böse Zunge behauptet hatten. Immerhin hatte sie damals ihr Studium aufgegeben und eine Ausbildung begonnen, um zum Familienunterhalt beitragen zu können.
Die Ehe zwischen Thomas und Lydia war nicht glücklich, weil sie einfach zu verschieden waren. Mir fiel irgendwann auf, wie wenig sie eigentlich miteinander sprachen. Ihre Trennung wunderte mich nicht allzu sehr, eher erstaunte mich, dass sie es immerhin zehn Jahre miteinander ausgehalten hatten. Nachdem es zwischen Thomas und Ulla, die Grund der Trennung gewesen sein sollte, dann wohl doch nichts geworden war, lebte Thomas allein. Allerdings bestand immer noch ein Kontakt zwischen den Beiden, erst vor einigen Wochen hatte ich sie zufällig miteinander gesehen. Ich hatte Ulla erst gar nicht erkannt, weil sie statt ihres langen Zopfes jetzt einen modischen Bob trug.
Martina hatte mich einmal gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, doch noch mit Thomas zusammenzukommen. Ich hatte das heftig und ehrlich verneint. Unsere Chance war ungenutzt verstrichen, und den Ex-Mann meiner Schwester wollte ich nicht, da war ich konservativ. Dass er allerdings in einer schwierigen Situation seine Hilfe anbot, freute mich.
Thomas und sein Freund kamen an einem Samstag und erledigten die Räumung des Dachbodens viel schneller, als ich zu hoffen gewagt hatte. Bereits am frühen Nachmittag war alles erledigt. Ich kochte Kaffee und Martina lief schnell zum Bäcker, um Kuchen für alle zu holen. Als sie zurückkam, sah ich sofort an ihrem Gesichtsausdruck, dass etwas Unangenehmes passiert sein musste. Ich wollte den Mund zu einer Frage öffnen, doch sie schaute mich warnend an und schleuste mich an meiner Mutter vorbei vors Haus und hinter den vollgepackten Container. Erst hier entfaltete sie die Abendausgabe einer Zeitung. Mir wurde flau, als ich die Überschrift des knallig aufgemachten Leitartikels las. „Es kommt leider noch schlimmer“, sagte Martina grimmig und klappte den unteren Teil der Zeitung auf, so dass mein Blick auf ein Foto fallen konnte. „Oh nein,“, stöhnte ich, „das darf Mutter auf keinen Fall sehen.“ „Hoffentlich können wir es auf Dauer verhindern“, erwiderte Martina skeptisch.
Lydia:
Ich lag in meinem Bett auf der Krankenstation, starrte die schmucklosen weißen Wände an und versuchte meine Gedanken zu konzentrieren. Die Dosis des mir verabreichten Beruhigungsmittels musste sehr hoch gewesen sein, das Vergangene schien in dichten Nebel eingehüllt. Schließlich bekam ich einen Faden zu fassen, ein Foto tauchte vor meinem geistigen Auge auf und gleichzeitig durchzuckte ein greller Schmerz mein Gehirn. Nein, es ging nicht, die Erinnerung war zu belastend, lieber noch nicht daran rühren.
Was war eigentlich vorher gewesen? Ich hatte die vergangenen Tage in ziemlicher Missstimmung verbracht, und bei Ulrikes letztem Besuch hatte es Streit zwischen uns gegeben. Weshalb eigentlich? Ach ja, wegen Thomas. Wie unwichtig das doch plötzlich erschien. An Thomas zu denken war unverfänglich, es löste keinen Schmerz aus. Also fing ich damit an. Ulrike hatte mir ganz beiläufig mitgeteilt, dass Thomas ihr bei der Räumung des Hauses helfen würde und mich damit ziemlich verärgert. Was befürchtete ich eigentlich? Dass Thomas die Gelegenheit nutzen und Mutter und Ulrike von meiner Beziehung zu Holger erzählen würde, die zur Auflösung unserer Ehe geführt hatte? Eigentlich fand ich das eher unwahrscheinlich. Inzwischen lag das alles viel zu
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