Schicksalsmord (German Edition)
der bereit ist, über Leichen zu gehen. Besonders dann, wenn man sich ihren Zielen in den Weg stellt. Jemanden zu ermorden scheint mir dann aber doch eine zu plumpe Methode, das passt nicht zu ihr. Sie ist zu klug und zu vorsichtig, um so ein Risiko einzugehen. Aber ich traue ihr zu, jemand anderen für ihre Zwecke zu benutzen. Vielleicht gibt es einen Komplizen, auf den bisher noch niemand gekommen ist. Sie hat ihm Versprechungen gemacht, er hat ihr geholfen, und als ihm klar wurde, dass er nur ausgenutzt werden sollte, ließ er sie fallen. Es hat immer mehrere Männer in Lydias Leben gegeben, sicher auch solche, die zu so etwas bereit wären.“
„Nein“, sagte ich, „es war eine Frau.“ Die alte Vertrautheit zwischen Thomas und mir war Schuld daran, dass die Worte von ganz allein aus mir herauskamen, so als spräche ich mit mir selbst. Thomas fragte nichts, nur seine Haltung signalisierte mir seine Aufmerksamkeit.
„Ich bin froh, darüber sprechen zu können“, setzte ich fort. „Es belastet mich schon die ganze Zeit und ich kann deshalb nicht mehr ruhig schlafen. An dem Abend als Dietrich starb, habe ich etwas beobachtet. Du weißt ja, ich war mit Lydia verabredet, kam aber durch die Zugverspätung nicht rechtzeitig bei ihr an, und mein Handy war auch noch kaputt. Dass sie dann überhaupt nicht da war, hatte ich allerdings nicht vermutet. Fast eine Dreiviertelstunde habe ich wartend im Gespräch mit der Nachbarin verbracht. Ich wollte die Frau schon bitten, bei ihr telefonieren zu dürfen, habe es dann aber gelassen. Sie war ohnehin misstrauisch, dem wollte ich keine neue Nahrung geben. Später ist mir eingefallen, dass die Kanzlei ja ganz in der Nähe ist und habe mich spontan entschlossen, hinzugehen. Ich wollte einfach nachschauen, ob Licht brennt, und wenn ja kurz zu Dietrich reingehen. Lydia hatte zwar Kontaktsperre angeordnet, doch ich mochte Dietrich ehrlich und wollte nicht ohne ein Wort des Abschieds gehen. Vielleicht erhoffte ich ja auch einen Rat in der Wohnungsangelegenheit von ihm. Und auf jeden Fall hätte ich von der Kanzlei aus Lydia anrufen können. Ich brauchte kaum fünf Minuten bis dorthin. Es gab nach hinten raus eine Gartenpforte, die erwies sich als Abkürzung. In den Kanzleiräumen brannte Licht, also bin ich raufgegangen. Du kennst die Räume ja auch, zuerst kommt man in den kleinen Garderobenraum, von dem die Toilettentüren abgehen. Zwischen dem eigentlich Wartebereich und diesem Vorraum ist doch die dicke, stark geriffelte Glastür. Ja, und durch diese Tür sah ich dann plötzlich die Frau. Das heißt „sehen“ ist der falsche Ausdruck, ich nahm schemenhaft ihre vorbeihuschende Silhouette war. Mehr als die Tatsache, dass es sich eindeutig um eine Frau handelte, konnte man so schnell wirklich nicht erkennen. Es hätte Lydia oder sonst jemand sein können. In dem Moment habe ich natürlich an Lydia gedacht und bin erschrocken umgekehrt. Mein Auftauchen dort hätte sie mit Sicherheit noch mehr gegen mich aufgebracht, und das wollte ich auf jeden Fall vermeiden. Für unser Gespräch brauchte ich schließlich ihr Wohlwollen.
Inzwischen vergeht kein Tag, an dem ich mir nicht den Kopf darüber zerbreche, ob Lydia die Frau in der Kanzlei war. Von den Mitarbeiterinnen war es jedenfalls niemand, die haben ja alle ein Alibi. Auch Dietrichs geschiedene Frau und seine Tochter Carola kommen nicht in Frage, die waren in der Klinik. Es könnte natürlich eine späte Mandantin gewesen sein. Wenn da nicht diese Zeugin wäre, die Lydia zweifelsfrei gesehen haben will. Das spricht dafür, dass sie es tatsächlich war.
Und warum hat Lydia gelogen? Weißt du, bei unserer ersten Befragung durch die Polizei hat sie spontan angegeben, wir wären beide während des fraglichen Zeitraums zu Hause gewesen und ich könne das bestätigen. Ich blöde Gans habe das tatsächlich abgenickt, es kam so überraschend. Beim zweiten Mal wurden wir gleich getrennt befragt. Die Beamtin sagte mir auf den Kopf zu, ich hätte meiner Schwester ein falsches Alibi gegeben. Das habe ich dann auch sofort zugegeben. Sie sagte mir weiter, ich müsse nicht gegen meine Schwester aussagen und brauche von nun an keinerlei Angaben mehr zu machen. Daran habe ich mich gehalten. Niemand hat überprüft oder hinterfragt, ob ich wirklich die ganze Zeit vor dem Haus auf sie gewartet habe. Vielleicht war es uninteressant, weil sie ja in Lydia die perfekte Verdächtige hatten. Ich werde wohl weiter schweigen, denn was ich zu sagen
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