Schicksalsmord (German Edition)
ihrem Liebestempel“ lautete eine marktschreierische Schlagzeile. An Lydias Schuld zweifelte inzwischen niemand mehr. Noch schlimmer aber war die Verbreitung des pornografischen Fotos durch die Presse, das Lydia mit einem unbekannten Mann zeigte, der ihr Vermieter gewesen sein soll. Auf diesem Foto lag Lydia in einem Auto mit offenem Verdeck. Ihr einen entrückten Ausdruck zeigendes Gesicht war nach oben und somit direkt in die Kamera gerichtet. Von ihrem Körper war eigentlich nichts zu erkennen, denn unterhalb ihrer nackten Schultern war der Bildausschnitt durch eine grobe Rasterung unkenntlich gemacht worden. Die fleischfarbene Tönung verriet jedoch, dass sie unbekleidet war. Der vor ihr kniende Mann war nur von hinten zu sehen, er wirkte muskulös und jünger als Lydia. Die unkenntlich gemachten Stellen entschärften das Foto nicht, sondern ließen es merkwürdigerweise besonders obszön wirken, da sie der Fantasie Raum gaben. Ich empfand die Veröffentlichung dieses Bildes als ungeheure Demütigung meiner Schwester, ebenso wie die in dem Zusammenhang gestellte Frage, ob dieser Liebhaber wohl an der Ermordung ihres Ehemanns beteiligt gewesen sei.
Zum Glück fand unsere Mutter ihre ganz eigene Strategie, damit umzugehen. „Das ist eine plumpe Fälschung“, beteuerte sie immer wieder. „Die können doch heute mit dem Computer einfach alles machen. Da machen sie junge Leute ganz alt und grau, oder ältliche Schauspieler kriegen eine Haut wie Zwanzigjährige verpasst. Das ist doch alles nur Lug und Trug, und das auf dem Foto ist gar nicht meine Tochter, da hat jemand ihren Kopf rangeklebt.“
Ich widersprach ihr nicht und ließ sie in ihrem Glauben.
Inzwischen war es Herbst geworden, und ich verspürte einen Anflug von Trauer, wenn ich an den Sommer dachte, der an mir fast völlig unbemerkt vorübergegangen war. Unser Umzug hatte sich verzögert, erst jetzt waren wir dabei, die neue Wohnung einzuräumen. Martina, Thomas und ich hatten den ganzen Tag über gerückt und geschraubt, und jetzt waren Mutters Schlaf- und Wohnraum so gut wie fertig. Martina war schon gegangen, und Thomas und ich tranken zum Abschluss noch einen Tee miteinander. Es war unvermeidlich, dass sich unser Gespräch schon bald wieder um Lydia drehte.
„Ich finde es empörend, wie die Presse mit ihr umgeht“, sagte ich. „Das ist die reinste Hexenjagd. Sicher ist Lydia kein Unschuldsengel, aber sie ist auch nicht die sexbesessene Schlampe, als die man sie hinzustellen versucht. Sie ist einfach eine attraktive, lebenshungrige junge Frau, die alles in vollen Zügen auskosten wollte. Bei einem Mann hätte man das toleriert. Einer Frau dagegen steht eine derartige Freizügigkeit offenbar nicht zu. Und was das Wichtigste ist, es gibt überhaupt keinen Zusammenhang zwischen ihrem Lebenswandel und dem Mord, den man ihr vorwirft.“ Ich hatte mich in Rage geredet.
Thomas sah mich nachdenklich an, signalisierte jedoch keine Zustimmung. Verärgert darüber bohrte ich nach. „Verurteilst du sie etwa auch?“, fragte ich hitzig. „Und traust du ihr wirklich einen Mord zu?“
Thomas ließ sich mit der Antwort Zeit. „Das muss man getrennt betrachten“, antwortete er schließlich bedächtig. „Ich verurteile sie nicht wegen ihres Lebenswandels, ich habe das nicht einmal getan, als ich noch der Betrogene war. Allerdings war das keine Abgeklärtheit, sondern die reine Feigheit. Ich wollte vor meinen Eltern, die mich vor der Ehe mit Lydia gewarnt hatten, nicht zugeben müssen, wie Recht sie damit hatten. Deshalb habe ich mich viel zu spät von ihr getrennt.“
„Was wussten deine Eltern denn schon von Lydia?“, fragte ich erstaunt. „Sie war ein junges Mädchen als ihr geheiratet habt und ein unbeschriebenes Blatt.“
„Sie kannten Lydias Vater und vertraten die Stamm-Apfel-These, womit sie zugegebenermaßen so falsch nicht lagen. Es waren sicher nicht unbedingt die Gene, sondern auch sein erzieherischer Einfluss auf sie, die Beiden hingen ja ziemlich viel zusammen. Und dann soll da auch mal so eine Geschichte zwischen Lydia und einem wesentlich älteren, verheirateten Kurgast gewesen sein.“
Letzteres war mir völlig neu und sicher nur ein Gerücht. Ich ließ das Thema jedoch auf sich beruhen und fragte, was mich viel mehr interessierte: „Und der Mord? Traust du Lydia wirklich einen Mord zu?“
Wieder zögerte Thomas mit der Antwort. „Ich weiß, es ist eine abgedroschene Formulierung, aber ich halte Lydia schon für einen Menschen,
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