Schicksalspfad Roman
hin. Grace hatte nur gute Erinnerungen an das Haus - an jene sommerlichen Tage, wenn sie mit ihren Eltern von New Jersey herübergekommen und mit Dad und Großpapa Boot gefahren war. Sie hatte eine knappe Schwimmweste getragen, die Männer hatte sich über Sport unterhalten und wo sie überall angeln wollten. An den Tagen, an denen Pa und Großpapa nicht fischen gingen oder mit leeren Eimern nach Hause kamen, schlemmte die Familie in einem der Fischrestaurants gebratene Muscheln und Fisch. Großpapa trank dann gerne ein Budweiser zu viel und erzählte seine alten Feuerwehrwitze. »Hey, Gracie, weißt du, warum bei der Feuerwehr immer ein Dalmatiner im Wagen mitfährt? Damit sie auch den Hydranten finden.« »Oh, Jim«, sagte Großmama Alice dann, »wir wollen doch beim Essen nicht an Hunde denken, die an einen Hydranten pinkeln«, und alle lachten. Grace liebte ihre Großeltern, aber immer wenn sie an diese Sommer dachte, erinnerte sie sich am deutlichsten an das Haus - an die luftigen, hellen Räume mit dem kühlen Holzboden, an die Veranda mit dem fernen Blick auf Manhattan.
Als Grace und Joanne vor dem Haus vorfuhren, saß Cherry mitten auf der breiten Holztreppe vor der Eingangstür.
Sie trug einen flauschigen weißen Bademantel und lackierte sich die Zehennägel. Cherry blickte ihre Wohngenossinnen überrascht an, weil sie zusammen ankamen. Joanne stellte den Motor ab.
»Scheint ja eine tolle Party gewesen zu sein«, rief sie ihnen von der Treppe aus zu.
»Du wirst es kaum glauben«, erwiderte Joanne und schwang sich vom Sattel. »Du hättest mitkommen sollen.«
Grace zerrte sich den Helm vom Kopf und stieg langsam ab. Ihre Hüften schmerzten.
»Nochmal danke schön, Grace«, sagte Cherry. »Ich hoffe, es war nicht allzu schlimm.«
Grace war nicht zu Nettigkeiten aufgelegt. Zum einen hatte Joanne sie auf dem Bruckner Expressway fast umgebracht, als sie immer wieder nach rechts und links blickte, um andere Wagen zu betrachten. Ein zweiundachtziger BMW! Hast du den gesehen? Mein Onkel Jimmy hatte mal so einen … Und dann die Beinahe-Katastrophe mit Mr. Ho. Außerdem war sie hundemüde.
»Ein Kinderspiel«, rief sie fröhlich. Ganz egal, wie verärgert oder wütend Grace auch war, Cherry gegenüber klang ihre Stimme stets fröhlich.
»Ich kann es kaum glauben, dass ich noch zwei Monate Nachtschicht machen muss«, sagte Cherry. »Ich fühle mich, als hätte ich die ganze Zeit Jetlag.«
»Ist das mein Nagellack?«, fragte Joanne, als sie die Treppe hinaufstieg. »Bronzebaby?«
»Ja«, sagte Cherry und hob das Fläschchen auf, um das Etikett zu lesen.
»Der hat fünfzig Dollar gekostet!«, stöhnte Joanne und
schritt an ihr vorbei. »Habe ich von Douglas . Nein, ich mache Blödsinn, kommt von Aldi , für zwei neunundneunzig.«
»Ich kaufe dir einen neuen«, erwiderte Cherry besorgt. »Entschuldige.«
»Keine Sorge«, meint Joanne. »Er steht dir sowieso viel besser. Möchte jemand Pfannkuchen?«
»Nein, danke«, sagte Grace.
»Kann nicht«, erwiderte Cherry. »Ich treffe mich mit meiner Tante zum Frühstück. Danke jedenfalls.«
»Rat mal, wen ich gestern Abend getroffen habe«, sagte Joanne kurz vor der Tür.
»Wen?«, fragt Cherry.
»Lass mich erst pinkeln gehen«, antwortet Joanne. »Verrat es ihr nicht, Grace.« Joanne verschwand im Haus.
»Wo triffst du denn deine Tante?«, fragte Grace Cherry.
»In ihrem Hotel«, erwiderte Cherry und befasste sich wieder mit ihren Zehennägeln. »Habe ich bei der Arbeit etwas verpasst? Irgendwas Gutes?«
»Nein«, antwortete Grace, »außer dass Rick Nash seinen Ruf als Superarschloch mal wieder bestätigt hat.«
Cherry blickte hoch. »Was ist denn passiert?«
Grace betrachtete Cherry. Sie wirkte so frisch und jung in ihrem weißen Frotteebademantel, so kühl, ausgeruht und sehr jung.
»Erinnerst du dich an Mr. Ho?«, fagte Grace. Sie trat auf die erste Stufe.
»Oh, der Süße«, meinte Cherry besorgt. »Ist er in Ordnung?«
Grace blieb auf der zweiten Stufe stehen und sah Cherry mit ihrem ernstesten Blick professioneller Enttäuschung
an, wie sehr die Maßstäbe in der Medizin gesunken seien. »Ja, er ist okay, aber der Ärmste ist fast gestorben, und warum? Weil Nash nicht rüberkommen und seinen Herzkatheter herausnehmen wollte, was ja, wie wir alle wissen, seine Aufgabe gewesen wäre. Stattdessen hat er es mir überlassen, und ich hatte das noch nie vorher gemacht. Natürlich war es ein totales Fiasko. Er hat furchtbar geblutet. Ich dachte, es
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