Schicksalspfad Roman
entschuldigen.« Der Captain stützte sich mit den Ellbogen auf die Theke und betrachtete Joanne irgendwie väterlich besorgt.
Joanne seufzte und blickte auf ihren Chowder. »Es ist einfach schwer«, sagte sie. »In einem Moment steht man neben jemandem, der so voller Leben ist, dass es kribbelt, und im nächsten Augenblick bricht er sich den Schädel und wird um zwei Uhr in der Frühe auf deine Station gerollt.«
»Jemand, den du kennst?«
»Ja, irgendwie«, erwiderte Joanne. »Kennst du Matt Conner?«
Der Captain kniff die Augen zusammen und versuchte, sich zu erinnern. »Ein Sportler?«
»Nein, ein Schauspieler. Er hat in Texas Hold Them , Miss Luzifer und The Lives of Men mitgespielt.«
Joanne war etwas entrüstet, dass der Captain bei jedem Titel den Kopf schüttelte. »Na, egal, er ist jedenfalls sehr beliebt.« Sie putzte sich geräuschvoll die Nase mit der Serviette.
»Wie passierte das mit dem Schädelbruch?«, fragte der Captain.
»Oh, das spielt keine Rolle«, antwortete Joanne schniefend. »Es ist nicht mal wegen ihm. Es ist nur, dass …« Sie brach ab. Sie konnte ihm nicht von Donny und dem Morphium erzählen, aber das machte ihr am meisten zu schaffen. »Es staut sich nur alles in einem an«, fuhr sie fort und dachte an ihre Arbeit, denn das war einfacher. »All die Dinge, die man Tag für Tag im Krankenhaus erlebt, all das Leiden. Man gewöhnt sich daran und entwickelt diesen emotionalen Schutzpanzer. Aber dann dringt eines Tages doch etwas durch, und das Ganze bricht zusammen.Vielleicht ist es ein alter Mann, der einen fragt, ob er einem seine Geschichte erzählen kann. Vielleicht eine junge
Frau mit unheilbarem Krebs, die einem traurig lächelnd sagt, wie sehr sie ihren Mann vermissen wird.« Joanne wischte sich erneut eine Träne fort, die ihr entschlüpft war. »Tut mir leid, das klingt vermutlich verrückt.« Sie versuchte zu lachen. »Ignorier mich einfach.«
»Nein, nein«, erwiderte der Captain. »Dafür bin ich doch da. Ein sicherer Hafen im Sturm.« Er lächelte sie flüchtig an.
Joanne erwiderte sein Lächeln mit feuchten Wimpern. Er wirkte tröstlich auf sie, und als Krankenschwester wusste sie das zu schätzen. »Und du?«, fragte sie. »Geht es dir auch manchmal so, dass plötzlich alles an die Oberfläche treibt?«
»So würde ich es nicht ausdrücken, aber ich habe auch meine schlechten Tage.«
»Erzähl mir davon. Erzähl mir deine Geschichte.« Joanne hoffte nur, dass er das Ganze nicht für einen Flirt hielt - sie wollte einfach nur eine andere Geschichte hören. »Hast du jemals Wale gefangen?«
»Nein«, antwortete der Captain, »aber ein Wal war mal hinter mir her.«
»Ehrlich?«
»So könnte man es ausdrücken.«
»Was ist passiert?«
»Also, da kam dieser Spermwal in die Bucht, in der ich angelte«, begann der Captain. »Wenn ein Wal so dicht ans Ufer kommt, ist er meistens entweder krank oder desorientiert. Meine Mannschaft und ich haben versucht, uns ihm zu nähern und ihn wieder hinaus aufs Meer zu scheuchen, weil er in dem flachen Wasser sonst sterben würde. Aber er wurde erregt, steckte den Kopf unter unser Boot
und brachte es zum Kentern.Wir landeten im Wasser, alle vier. Wir haben wie verrückt aufs Wasser geschlagen und gespritzt, um ihn zu vertreiben. Ich habe keine Ahnung, ob er Angst bekam oder einfach die Lust verlor, aber nach einem Moment drehte er sich um und schwamm wieder hinaus aufs Meer. Er muss an die vierzig Tonnen gewogen haben - riesig. Glücklicherweise konnten wir das Boot wieder umdrehen, hineinklettern und ohne weitere Zwischenfälle wieder an Land fahren.«
»Das ist ja unglaublich«, sagte Joanne. »Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.«
»Ich hatte mehrere gefährliche Begegnungen mit wilden Tieren«, fuhr der Captain fort. »Am schlimmsten aber war es mit dem Tiger.«
»Mit einem Tiger?«, fragte Joanne ehrfürchtig. Sie hatte eine Schwäche für Tiger. »Wo? In einem Zoo?«
Der Captain schüttelte den Kopf. »Im Bin-Tan-Dschungel. In Vietnam.«
»In Vietnam? Meinst du den Krieg?«
»Jedenfalls kein Musical.«
»Aber das ist doch schon tausend Jahre her.«
»Damals war ich noch jung.«
»Was hast du da gemacht?«
»Ich war auf Erkundung. Ich musste Charlie in den Dschungel folgen.«
»Wer ist Charlie?«
»So nannten wir den VC. Den Vietcong. Victor Charles. Ich musste Charlies Exkremente aufsammeln und ins Labor schicken, damit wir erfuhren, was die so essen.«
»He, das mache ich auch oft in meinem Beruf.
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