Schicksalspfade
um mit Tuvok Schritt zu halten.
Eine Stunde später saßen sie vor M’Fau im Tempel von
Amonak. Die Jungen waren blass und still; jeder von ihnen umklammerte einen kleinen Behälter, der Kleidungsstücke und einige andere notwendige Dinge enthielt. M’Fau wirkte wie ein Nestra-Vogel mit üppigem Gefieder. Sie trug eine
glänzende safrangelbe Kutte, bot einen sehr eindrucksvollen Anblick.
»Ich überlasse meine Söhne Ihrer Obhut«, sagte Tuvok. »Ich habe als Vater versagt und möchte nicht, dass meine
Unzulänglichkeit meinen Söhnen zum Nachteil gereicht.
Unterweisen Sie sie in den vulkanischen Disziplinen, auf dass sie angemessen instruiert ihren Platz in der Welt der Erwachsenen einnehmen können.«
M’Fau antwortete nicht und musterte die beiden Jungen aufmerksam. Sek erwiderte ihren Blick ruhig, aber Tuvok glaubte, in seinen Augen Schmerz und Unsicherheit zu
erkennen. Bei Varith war die Furcht ganz deutlich zu sehen: Seine Lippen zitterten und er umklammerte seinen Behälter so fest, dass die Finger blass und fleckig wurden.
Diese Beobachtungen bestärkten Tuvok in seiner
Entscheidung. Richtig erzogene Kinder hätten kein solches Verhalten gezeigt; Sek und Varith brauchten also die feste Hand der Priester und Priesterinnen.
Aber M’Fau schwieg und bestätigte Tuvoks Entscheidung nicht. Er wartete geduldig und glaubte, dass sie besonders gründlich überlegte.
Schließlich wandte sich M’Fau von den beiden Jungen ab und Tuvok zu. Sie war fast zwei Jahrzehnte älter als zur Zeit seines ersten Pon Farr und ihr Gesicht wies noch tiefere Falten auf. Aber ihr Blick war immer noch scharf und durchdringend.
Er spürte, wie sie sein Bewusstsein sondierte, schirmte sich nicht dagegen ab.
Nach einigen Sekunden presste M’Fau die Fingerspitzen aneinander und sah aus dem Fenster. Mattes gelbes Licht drang herein und Tuvok dachte kurz an die trüben Nachmittage in San Francisco, wenn die Sonne vergeblich versuchte, die Stadt zu erhellen, und nur als besonders helle Stelle am bedeckten Himmel zu sehen war.
Schließlich kehrte M’Faus Blick zu ihm zurück. »Diese Jungen sind nicht bereit für das Kolinahr«, sagte sie. »Ich kann sie nicht aufnehmen.«
Tuvok war verwirrt. Wieso wollte M’Fau seine Söhne nicht aufnehmen, obwohl sie die strenge Disziplin des Ordens ganz offensichtlich dringend brauchten? Er setzte zu einem Einwand an, aber M’Fau kam ihm zuvor, indem sie die Hand hob.
»Du bist damals aus freiem Willen nach Amonak gekommen.
Aufgrund deiner Lebenserfahrungen warst du bereit. Das gilt nicht für diese beiden Jungen. Du kannst den Prozess nicht beschleunigen, Tuvok. Deine Hast wird genau das Gegenteil von dem bewirken, was du dir wünschst.«
»Aber… sie reagieren weder auf ihre gegenwärtigen Lehrer noch auf meine Versuche, ihnen die Disziplinen beizubringen.
Sie brauchen eine festere Hand.«
»Die Erziehung von Kindern sollte einfach sein, nicht wahr?
Wir lehren sie einfach das, was wir wissen, und sie nehmen unsere Weisheit pflichtbewusst in sich auf, während sie so erwachsen werden, wie wir es uns wünschen.«
Sie musterte Tuvok, der passiv blieb und darauf wartete, dass M’Fau zum Kern der Sache kam. »Es ist nichts weiter als eine angenehme Wunschvorstellung«, fuhr die alte Vulkanierin fort.
»Du darfst deinen Söhnen ihre eigenen Anstrengungen nicht vorenthalten, Tuvok. Sie brauchen ihre eigenen
Lebenserfahrungen, müssen selbst lernen, Hindernisse zu überwinden. Du kannst sie Reife nicht lehren.«
»Aber in ihrem Alter war ich nicht so ungebärdig…«
M’Fau unterbrach ihn, indem sie abrupt aufstand und sich an die Jungen wandte. »In der Küche gibt es sicher noch ein wenig Honigkuchen. Sagt der Köchin, ich hätte euch zu ihr geschickt.«
Sek und Varith erhoben sich sofort und eilten zur Tür. Als sie das Zimmer verlassen hatten, sah M’Fau wieder Tuvok an.
»Ich weiß, wie du in ihrem Alter gewesen bist. Du bist genauso gewesen wie deine beiden Söhne, und wenn du etwas anderes behauptest, so entspricht das nicht der Wahrheit. Deine Mutter war damals ebenso besorgt wie du heute.«
Tuvok war verblüfft. Wie konnte so etwas möglich sein? Er war nie ungebärdig oder undiszipliniert gewesen, hatte seinen Eltern immer sofort gehorcht.
Oder?
»Wenn ich auf Vulkan geblieben wäre, hätten sich bei
meinem Reifeprozess keine Probleme ergeben«, sagte Tuvok.
»Die Interaktionen mit Menschen behinderten mein Wachsen in Richtung Kontrolle und
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