Schicksalspfade
Dinge.
Aber er brachte es einfach nicht fertig, das Tier zu verlassen.
Er versicherte sich selbst, dass er damit keine emotionale Entscheidung traf; es ging ihm vielmehr darum, nicht die Geister zu beleidigen, die es vielleicht in der endlosen Wüste gab. Er hatte Ungewöhnliches erlebt und fühlte überall um sich herum die Macht mysteriöser Kräfte. Unbekannte Dinge
existierten hier und daher war es nicht möglich, auf der Grundlage normaler Erwartungen zu agieren. Mit
ungenügendem Wissen konnte man keine Kontrolle auf das eigene Schicksal ausüben.
Das Erscheinen des Sehlats, das ungewöhnliche Verhalten des Tiers, seine Loyalität… Alles schien auf eine lenkende Präsenz hinzudeuten und eine solche Präsenz zu kränken, mochte Verderben bringen. Einem Wohltäter den Rücken
zuzukehren… So etwas war für jedes Wesen eine Beleidigung, ob körperlich oder nicht.
Tuvok setzte sich neben den Sehlat und strich ihm über den Kopf. »Ich sehe den Berg. Ich gewinne nichts dadurch, noch mehr von ihm zu sehen. Daher ist meine Reise nun zu Ende.«
Der Sehlat antwortete nicht.
Tuvok blieb lange Zeit neben dem Tier sitzen, beobachtete das ferne Dreieck und fragte sich, ob er irgendetwas erreicht hatte. Die vagen Fragen zu Beginn seiner Reise waren noch immer unbeantwortet und unterwegs hatten sich weitere Fragen ergeben. Der Anblick des Berges – beziehungsweise seines Gipfels – gab ihm nicht das Gefühl, das Ziel erreicht zu haben. Weshalb also hatte er all die Mühen auf sich
genommen?
Stundenlang dachte er darüber nach, führte eine innere logische Debatte und verlor sich in einem Gewirr aus
möglichen logischen Deduktionen, als ihm plötzlich klar wurde, dass er etwas hörte. Das Geräusch war schon seit einer ganzen Weile präsent, aber erst jetzt nahm er es bewusst zur Kenntnis; ein leises Grollen, das aus allen Richtungen zu kommen schien.
Er sah auf und stellte fest, dass sich der Himmel verdunkelt hatte, obgleich es nach seiner Schätzung erst Mittag war.
Gelbbraune Wolken ballten sich am Firmament zusammen, wirkten unheilvoll. Verblüfft begriff Tuvok, dass er etwas hörte, was sich vulkanischen Ohren nur sehr selten offenbarte: Donner. Das Grollen wurde lauter und Blitze flackerten in den Wolken. Ein Gewitter zog auf.
Es regnete nur selten auf Vulkan, in der Wüste fast nie.
Manche Geschichten erwähnten Wolkenbrüche, die sich in hundert Jahren nur einige wenige Male ereigneten und
sintflutartige Intensität gewannen. Ehrfurcht regte sich in Tuvok, als er daran dachte, dass er eins dieser legendären Ereignisse erleben würde, und er stand auf, um dem
meteorologischen Phänomen mit angemessenem Respekt zu begegnen.
Die Temperatur sank schnell und ein kühlender Wind wehte.
Er wies überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem wütenden Sturm auf, den sie überlebt hatten, und Tuvok empfand ihn als erfrischend. Er streichelte seinen Körper und schien bestrebt zu sein, ein Fieber zu lindern. Der Vulkanier schauderte wie seit dem Pon Farr nicht mehr.
Das Grollen des Donners wurde jetzt lauter und es ließen sich einzelne Donnerschläge unterscheiden, die sich anhörten wie die Entladungen mächtiger Photonenkanonen. Blitze erhellten die Wolken, verwandelten das gelbliche Braun in
schimmerndes Gold. Tuvok betrachtete die sich verändernde Palette des Himmels wie ein kolossales Gemälde, spürte dann eine seltsame Schwüle und nahm den Geruch von Feuchtigkeit wahr.
Kurz darauf fielen die ersten Tropfen.
Er neigte das Gesicht nach oben und fühlte den Regen auf den Wangen, an der Stirn und den Lidern, herrliche, kühlende Feuchtigkeit. Er öffnete den Mund, als der Regen heftiger wurde, trank das wundervolle Nass.
Dann wandte er sich dem Sehlat zu, der die Schnauze
gehoben hatte und versuchte, die fallenden Tropfen mit der Zunge aufzunehmen. Tuvok wölbte die Hände, bis sie sich mit Wasser füllten, ließ die Flüssigkeit dann ins Maul des Tiers strömen. Diesen Vorgang wiederholte er immer wieder, bis der Sehlat schließlich aufstand.
Der Regen verwandelte den weichen Wüstensand in eine
feste Masse. Tuvok grub einige Mulden, in denen sich rasch Wasser sammelte – auf diese Weise fiel das Trinken leichter.
Der Sehlat leckte es auf und Tuvok trank eine Hand voll nach der anderen, bis er glaubte, platzen zu müssen.
Mit dem Regen kam ein weiterer Segen. Kleine im Boden lebende Tiere verließen ihre unterirdischen Baue, um nicht darin zu ertrinken: Eidechsen, Mäuse und andere Geschöpfe,
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