Schieber
die
Straße. Damen, die in hochhackigen Schuhen vorsichtig über das
Kopfsteinpflaster balancieren, Herren im Smoking, englische Offiziere in
peinlich gebügelten Ausgehuniformen. Es muss eine Premiere in den Kammerspielen
stattfinden, vermutet Stave. Er will sich schnell wegdrehen, da hört er jemanden
seinen Namen rufen.
Ein Offizier tritt etwas abseits der Menge aus dem langen Schatten
einer Häuserzeile. MacDonald. Der Lieutenant schüttelt ihm die Hand. War vor
gar nicht so langer Zeit noch verboten, denkt der Oberinspektor, Verbrüderung
mit dem Feind.
»Ich wusste nicht, dass Sie Theatergänger sind«, sagt Stave.
MacDonald lacht. »In der Armee spielt man genug Theater, da wird man
zum Experten.«
»Was wird gegeben?«
»Die Bühnenversion eines Hörspiels: ›Draußen vor der Tür‹, Wolfgang
Borchert.«
»Der Autor wird nicht anwesend sein«, brummt Stave. Er erinnert sich
vage daran, dass Borchert irgendwann im vergangenen Winter gestorben ist: ein
hässliches Fieber, das er sich in Russland geholt hat, als er an der Ostfront
in einer Strafkompanie dienen musste. »Draußen vor der Tür« hat der NWDR
gesendet. Er saß an jenem Abend vor dem Radio, ist aber eingeschlafen – oder
der Strom fiel wieder einmal aus. Jedenfalls ahnt er nicht, wovon das Stück
handelt.
»Wissen Sie was, alter Junge: Ich lade Sie ein!«
Stave blickt den jungen Engländer erstaunt an. »Sie haben zwei
Karten?« Er fühlt sich schäbig in seinem zerknitterten Jackett, deplatziert
inmitten der eleganten Gesellschaft. Er sucht nach einer Entschuldigung, um
sich aus der Einladung herauszuwinden.
»Ich wollte Erna überraschen«, erwidert MacDonald. Sein Tonfall ist
leicht, doch sein Lächeln ist ihm zur Maske gefroren.
»Sie fühlt sich nicht wohl, in ihrem Zustand?«, souffliert der
Oberinspektor.
»Nennen wir das die offizielle Absage. Tatsächlich erschien es ihr nicht
angebracht, sich hier zu zeigen.« Er streicht sich über die Augen.
»Wahrscheinlich hat sie recht. Zu viele Kameraden hier. Die reden sowieso schon
über mich und meine kleine deutsche, schwangere Freundin. Wäre sie hier, könnte
sich der eine oder andere Vorgesetzte provoziert fühlen.«
»Kein Skandal.«
»Kein Skandal. Ich fühle mich wie manche Häuser hier: schöne Fassade
und nichts mehr dahinter.«
»Ich nehme Ihre Einladung an.«
MacDonald schlägt ihm auf die Schulter. »Ein wenig Kultur hat noch
niemandem geschadet, nicht einmal einem Oberinspektor der Kriminalpolizei.
Keine Sorge, ich werde Sie niemandem vorstellen.«
Zwanzig Minuten später sitzt Stave neben dem Lieutenant auf einem
der mittleren Plätze. Verlegen blättert er im Programmheft: Hans Quest als Unteroffizier
Beckmann, Erwin Geschonnek als Kabarettdirektor, Käte Pontow als Kriegerfrau,
Regie Wolfgang Liebeneiner. Sagt ihm alles nichts. Ich bin wirklich ein Barbar,
denkt er, MacDonald hat recht: Es gibt interessante Sachen jenseits von Mord
und Totschlag. Dann hätte ich auch etwas, was ich meinem Sohn erzählen könnte.
Oder Anna. Falls einer der beiden jemals wieder aufkreuzt.
Dann erlöschen die Lampen, und der Oberinspektor reist in eine
andere Welt: Unteroffizier Beckmann, mit einer aus einer Gasmaske fabrizierten
Brille auf der Nase, kehrt aus dem Krieg zurück. Seine Frau hat einen anderen
Mann. Seine Eltern haben sich »selbst entnazifiziert«, indem sie in ihrer
Wohnung den Gasschlauch aufdrehten. Und als er in die Elbe springen will,
verweigert sich ihm sogar der Fluss und lässt ihn zurück in seinem elenden
Leben.
Als der Vorhang fällt, bleibt es lange still im Saal. Erst nach
vielleicht einer Minute, langsam, schließlich immer mächtiger, ertönt der
Beifall. Stave klatscht mit, wagt es aber nicht, seinen Nachbarn anzublicken.
Wie gut, denkt er, dass Erna Berg nicht mitgekommen ist.
Schließlich erhebt sich MacDonald. »Gute Schauspieler«, sagt er
leichthin. »Das Stück ist aber sehr deutsch.«
Der Oberinspektor weiß nicht, was er erwidern soll.
»Soll ich Sie nach Hause fahren? Mein Jeep parkt auf der
Rothenbaumchaussee.«
Stave spürt plötzlich, wie erschöpft er ist. »Sieht nach einem
einseitigen Abend aus: Sie spendieren mir die Karte. Sie machen den Chauffeur.
Ich fühle mich beschämt.«
»Sehen Sie es als dienstliches Treffen an«, erwidert MacDonald und
lächelt zum ersten Mal seit zwei Stunden wieder.
Draußen ist es noch immer so heiß, dass der Lieutenant die
Frontscheibe des Jeeps nach vorne klappt, damit sie wenigstens der
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