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Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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sich
nur die Beine vertreten, beruhigt er sich.
    Als er die Kleidung auf dem Bett im kleinen Zimmer ausbreitet, merkt
er, dass seine Hände zittern. Gut, dass ihn niemand sieht. Er dreht den Hahn
über der Küchenspüle auf. Gurgelnd rinnt Wasser heraus, rostrot und metallisch
schmeckend wie Blut. Er trinkt es trotzdem, zögert kurz, ob er es über seinen
Kopf laufen lassen soll. Eine Abkühlung wäre nicht schlecht. Aber wird er
danach nicht schmutziger sein als zuvor? Schließlich kapituliert er vor der
Hitze und beugt sein Haupt unter das Rinnsal. Lange lässt er das Wasser über
seinen Schädel laufen, steht da, gebeugt, mit geschlossenen Augen, versucht, an
nichts zu denken.
    Das Tuch, mit dem er sich endlich abtrocknet, färbt sich zwar
rostrot, doch er fühlt sich trotzdem erfrischt. Er geht noch einmal vor die
Tür, klappert mit der Lebensmittelkarte in der Hand die Läden ab, bevor die
letzten schließen. Er verbraucht zwar so viel, dass er mit seiner Ration diesen
Monat nicht mehr hinkommen wird, aber Karl wird ja bald seine eigene Karte
erhalten.
    Doch auch als er diesmal zurückkehrt, ist die Wohnung leer. Stave
hockt sich betäubt auf einen Küchenstuhl, eine Stunde lang sitzt er da. Wie
still die Wohnung ist, das ist ihm nie zuvor aufgefallen, wie schäbig. Er fragt
sich, wo sein Sohn steckt. Sucht er eine Arbeit? Kein Monatserster – aber
Montag. Vielleicht stellt ihn jemand schon für die Woche ein? Mach dir keine
Illusionen, so schnell geht das nicht. Aber was dann? Trifft er sich mit alten
Freunden? Die waren alle in der HJ. Ob die noch leben? Und ob sie guter Umgang
sind für ihn? Unverbesserliche Nazis? Oder jene jungen ehemaligen Soldaten mit
den harten Gesichtern, die nun den Schwarzmarkt beherrschen? Die Sorgen hören
nie auf.
    Schließlich hält er es nicht mehr aus. Raus aus den stickigen
Zimmern, aus der Stille. Er stürzt die Treppe hinunter.
    Ziellos streift er durch die Straßen. Goldenes Licht, flirrender
Staub. Die Schuttberge haben die Hitze des Tages gespeichert und strahlen sie
auf die Straßen ab, wie kleine Vulkane. Noch Tage, Wochen nach den
Bombenangriffen 1943 haben die Ruinen geglüht. Da war es, als wandle man durch
einen Backofen. Margarethe. Was würde seine Frau jetzt tun? Hätte sie nicht
ganz anders mit ihrem Sohn geredet als er? Ihn längst in den Arm genommen?
Stave schließt die Augen und läuft weiter, quert die Ahrensburger Straße,
erreicht nach ein paar Schritten die Wandse. Ein Bach, ein Park zu beiden
Seiten, ein grünes, kilometerlanges Band durch eingestürzte Häuser und schwarze
Wohnblocks. Weiden am Ufer, neue Triebe aus den Stümpfen kleingehackter Buchen.
Gras, Löwenzahn, die schwarze Erde der Maulwurfshügel zwischen den
Sonnenanbetern auf der Wiese. Paare auf zerschlissenen Decken, Kinder,
Familien. Eine junge Frau hat sogar eine Sonnenbrille im Gesicht. Stave starrt
sie an, bis er merkt, wie unhöflich er ist. Sonnenbrillen hat er seit Jahren
nur noch bei Besatzungsoffizieren gesehen.
    Irgendwann steht der Oberinspektor an der Außenalster. Vier Jollen
auf dem See mitten in Hamburg, die Segel schlaff. Das Wasser grau und glatt wie
eine Scheibe aus poliertem Blei. Ein Ruderer, der mit seinem Einer einen scharfen
Strich durch die perfekte Oberfläche zieht, dazu die Strudel der eintauchenden
Ruderblätter zu beiden Seiten – wie eine riesige Naht, die einmal quer über die
Außenalster gelegt wird. Die Villen am Ufer, die Vorhänge der Weidenäste
schimmern grünlich, der weiße Block des Luxushotels »Atlantic« zur Linken, im
Hintergrund die Spitzen von Kirchtürmen und vom Rathaus. Er denkt an Anna, mit
der er am Ende des Schreckenswinters an der Alster spaziert ist. Ihr erster
Kuss. Ist gar nicht so lange her. Er wendet sich nach rechts, hinkt am Ufer
entlang. Irgendwann erreicht er die westliche Alsterseite. Er biegt von dort
nach rechts ab, schlendert über die Rothenbaumchaussee. Warum gerade hier?
Stave wird klar, dass er sich selbst überlistet hat, dass er längst nicht so
ziellos herumläuft, wie er sich das einredet. Noch ein paar Hundert Meter, dann
erreicht er den Bahnhof Dammtor. Dahinter die Bahnlinie der Kohlenklauer. Der
Fall frisst dich auf, denkt er. Reiß dich los, wenigstens diesen Abend. Also
wendet er sich nach rechts in die nächste, kleine Straße, die von der großen
Allee wegführt. Die Hartungstraße, vor ein paar Tagen ist er hier noch mit Anna
gewesen.
    Stave hält erstaunt inne: Elegante Frauen und Männer blockieren

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