Schieber
Fahrtwind
umbraust. Der Geländewagen rumpelt über die Schlaglöcher, der Offizier fährt
langsamer als nötig. Er hat auch keine Eile, in seine Villa zurückzukehren,
vermutet Stave. Wo Erna Berg wohl den Abend verbringt?
Um MacDonald abzulenken und das Schweigen endlich zu beenden,
bedankt er sich für die Notiz vom vergangenen Wochenende. Er muss dabei beinahe
schreien, um den röhrenden Zwölfzylinder zu übertönen.
»Klingt nicht so, als würden Sie viel auf meinen Hinweis geben«,
erwidert MacDonald.
Der Oberinspektor fühlt sich ertappt, MacDonald muss sein mangelnder
Enthusiasmus aufgefallen sein. »Adolf Winkelmann trieb sich mit Wolfskindern
herum«, rechtfertigt er sich. »Mit Kohlenklauern und Herumstreunern. Die
Klügeren und Älteren waren vielleicht schon Schieber auf dem Schwarzmarkt. Aber
niemand von denen hat etwas auf einer Werft verloren.«
»Bei Blohm & Voss arbeiteten DPs und KZ-Häftlinge aus dem Osten.
Die Wolfskinder sind aus dem Osten geflohen. Vielleicht gibt es da irgendeine
Verbindung?«
»Die Zwangsarbeiter sind Polen, Ukrainer, Russen. Die Wolfskinder
sind Deutsche. Klingt nicht nach idealen Voraussetzungen für eine
Freundschaft.« Der Oberinspektor erinnert sich an den Abscheu, den Hildegard
Hüllmann zeigte, obwohl sie als Prostituierte alles andere als wählerisch sein
kann.
»In der Welt, in der sich der Junge herumtrieb, gibt es keine
Freunde«, versetzt MacDonald, »und das ist auch nicht notwendig. Vielleicht
hatte Adolf Winkelmann unter ihnen bloß so etwas wie Geschäftspartner
gefunden.«
»Wenn es so war, dann war es ein mieser Handel.«
Eine Zeit lang fahren sie schweigend durch die leeren Straßen. Stave
ringt mit sich, ob er MacDonald von seinem heimgekehrten Sohn erzählen soll.
Irgendwann muss er ja einmal anfangen, von Karl zu berichten. Geschichten von
einer heilen Familie sind wahrscheinlich nicht das, was er gerade hören will,
denkt er. Andererseits: Der Lieutenant wird selbst bald Vater. Also berichtet
er, das Thema »Osten« als Überleitung nutzend und so beiläufig, wie es ihm
möglich ist, von Karls Rückkehr aus Workuta. Zu seiner Überraschung schlägt ihm
MacDonald auf die Schulter, ehrlich erfreut.
»Damit rücken Sie erst jetzt heraus? Und ich schleppe Sie ins
Theater. Wahrscheinlich wären Sie viel lieber zu Hause, bei Ihrem Sohn!«
»Wir müssen uns erst wieder aneinander gewöhnen …«, antwortet Stave
verlegen und bereut schon, so viel Persönliches preisgegeben zu haben.
»Verstehe«, erwidert MacDonald und blickt konzentriert nach vorne.
»Manchmal frage ich mich, ob nach diesem Krieg jemals wieder ein
normales Familienleben möglich sein wird«, erklärt Stave müde.
»So lange es Advokaten und Bürokraten gibt, lautet meine Antwort:
Vergessen Sie es«, erwidert der Lieutenant grimmig.
»Der Scheidungsprozess?«
»Ich würde lieber wieder in den nächsten Krieg ziehen als in einen
Gerichtssaal. Zumal ich dort bloß ohnmächtiger Beobachter sein werde. Erna wird
das durchfechten müssen.«
Ein fast aussichtsloser Fall vor Gericht, denn unter normalen
Bedingungen wird man ihr niemals das Sorgerecht für das Kind zusprechen.
MacDonald ist trotzdem Erna Bergs Schiffspassage in ein besseres Leben, die
einzige, die man ihr jemals anbieten wird.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragt Stave.
MacDonald lächelt kurz, dankbar, aber auch irgendwie triumphierend.
»Ich hatte, ehrlich gesagt, gehofft, dass Sie mich das fragen würden, alter
Junge. Ich wagte selbst nicht, darum zu bitten.«
»Worum?«
»Sagen Sie vor Gericht aus. Als Zeuge. Berichten Sie, was Sie von
Erna wissen. Wie gut sie arbeitet. Wenn ein Oberinspektor der Kriminalpolizei
im Zeugenstand auftaucht, gibt das einem Richter vielleicht zu denken.«
Und bei den Krimsches gibt das Gerede, sagt sich Stave. Er verflucht
seine Großmütigkeit. Aber diese Falle, die er sich selbst gestellt hat, lässt
ihn nun nicht mehr los. »Das mache ich«, verspricht er.
Als sie vor der Ahrensburger Straße 93 halten, erwartet
Stave, dass MacDonald ihn aus dem Jeep steigen lässt und davonbraust. Doch der
Lieutenant stellt den Motor ab. Auf der Straße ist es unheimlich still.
Irgendwo fiepen Rattenjunge. Der Mond steht als schmale Sichel am samtschwarzen
Himmel. Die Ruinen und Fassaden leuchten düster wie die Kulissen eines
expressionistischen Theaterstücks. Stave fühlt sich wie ein Schauspieler, der
auf die Bühne gestolpert ist, ohne zu wissen, welche Rolle er zu spielen
Weitere Kostenlose Bücher