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Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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will sie in den Arm nehmen, ihr wenigstens mit den
Fingerspitzen über die Haut der Arme streicheln. Doch er wagt nicht, die zwei
Schritte zu gehen, die sie noch voneinander trennen. »Es geht um den Mord an
dem Jungen, auf der Werft. Ich habe dir davon erzählt. Sie kannte ihn.«
    »Aber ich kenne dich nicht mehr.«
    Die Luft ist für ihn wie eine feuchte, rußige Suppe. »Du denkst doch
nicht, dass ich mit dem Mädchen …«
    »Ich weiß nicht, was ich denken soll.« Anna ist blass.
    »Das geht mir genauso.«
    Sie lächelt traurig. »Ich weiß. Ich bin diejenige, die dir keine
Antworten gibt, und das einem Polizisten. Ich dachte, das hat Zeit. Wir könnten
uns langsam aneinander gewöhnen. Aber wir fangen eben nicht bei Null an. Wir
schleppen unsere Lasten mit, Lasten aus dem Krieg und aus der Zeit davor.«
    »Mein Sohn ist erst zwei Tage hier«, flüstert er.
    »Und du sollst ihn nicht wegschicken«, wirft sie rasch ein. »Du hast
mir von Karl erzählt, ich wusste, dass ich mich ihm früher oder später stellen
muss. Aber erst, wenn du dich selbst ihm gestellt hast. Wenn du selbst weißt,
wie es weitergehen soll … Weißt du es?«
    Stave hebt die Hände, lässt sie kraftlos wieder sinken. »Ich denke
nicht über die nächsten Stunden hinaus«, gibt er zu. »Ich werde ihm auf dem
Schwarzmarkt ein paar Sachen kaufen. Wenn mich kein Kollege dabei erwischt.
Dann gehe ich nach Hause. Weiter reichen meine Pläne nicht.«
    »Karl ist zornig. Zornig auf die verlorenen Jahre, auf sein
verlorenes Leben. Zornig auf dich. Auf mich, weil ich dort war, wo eigentlich
seine Mutter sein sollte.«
    »Bitte verlass mich nicht«, stößt er erschrocken hervor.
    »Bleiben kann ich auch nicht. Was stellst du dir vor? Dass ich
abends zu dir komme und bei euch am Tisch sitze, neben deinem schweigenden
Sohn, der mich ansieht, wie er vielleicht die russischen Soldaten angesehen
hat? Dass wir nachts im Bett liegen – und er liegt im Zimmer nebenan, und wir
bilden uns ein, dass er lauscht? Oder dass du zu mir kommst? Dass du ihm sagst,
er solle allein in der Wohnung bleiben, der Wohnung neben eurem zerbombten
Haus, in dem seine Mutter starb? Dass du währenddessen die Nacht mit mir
verbringst?«
    »Wir bauen etwas Neues auf«, flüstert er. »Wir können doch nicht für
immer so vegetieren, in den Ruinen von früher.«
    »Wir haben uns aneinandergeklammert wie zwei Ertrinkende. Doch wir
ertrinken gar nicht, wir schwimmen.«
    »Geh jetzt nicht.«
    »Du musst erst einmal dein Leben ordnen, zusammen mit deinem Sohn.
Und ich muss darüber nachdenken, ob ich in dieses Leben hineinpasse.« Nun
überwindet sie die zwei Schritte Distanz, streicht ihm flüchtig mit der Rechten
über die Wange. »Ich gehe ja nicht für immer«, flüstert sie. Rasch dreht sie
sich um und eilt den Bahnsteig hinunter.
    Stave blickt ihrer schmalen Gestalt nach, ihrem streng
zurückgebundenen, dunklen Haar, dem in einem Windhauch flatternden, weißen
Sommerrock. So zerbrechlich, denkt er. Und er fragt sich, ob ihr letzter Satz
mehr ist als ein leeres Versprechen.
    Er benötigt fast eine halbe Stunde bis zum Hansaplatz,
obwohl der nur ein paar Hundert Meter neben dem Bahnhof liegt. Stave fühlt sich
zerschlagen, sein Fußgelenk pocht, er ist so ausgedörrt, dass er nicht einmal
schwitzt. Kopfschmerzen, als hinge in seinem Schädel eine Abrissbirne, die bei
jeder Bewegung an die Innenseite des Knochens dröhnt. Leere. Er denkt an jene
brandhellen Nachtstunden im Sommer vor vier Jahren, als er Margarethes Körper
aus den Trümmern seines Hauses zog. Kein Schmerz zunächst. Bloß das Gefühl, in
einem Traum gefangen zu sein und gleich aufzuwachen. Verliert er seine neue
Liebe nun leise, nach einigen Sätzen auf einem Bahnsteig? Wieder der Eindruck,
in einer Traumwelt zu sein.
    Nimm dich zusammen, sagt er sich. Du bist nun für Karl hier. Sieh
dich um: Spitzel? Schupos? Er hinkt die schmalen Straßen in der Nähe des
Hansaplatzes entlang: Ellmenreichstraße, Bremer Reihe, Stralsunder Straße.
Flaneure, Kinder, ein, zwei müde Prostituierte, einige Betrunkene – und viele
Frauen und Männer mit Aktentaschen, Einkaufsnetzen, alten Rucksäcken, die
Richtung Hansaplatz streben. Büroschluss, jetzt wird es dort voll.
    Stave wagt sich schließlich auch auf den Platz. Gestalten in
Hauseingängen, am Brunnen, scheinbar ziellos über das Pflaster wandernd.
Geflüsterte Worte, Reichsmarkscheine bündelweise, abgezählte Zigaretten. Junge
Männer in tadelloser Kleidung, Schweizer Uhr

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