Schieber
»Wartest du in der Wohnung
auf mich?«
»Ich werde hier sein.«
Im Vorzimmer zu seinem Büro bleibt der Oberinspektor
irritiert stehen: leer. Ob Erna Berg sich unwohl fühlt, es bei ihr so weit ist?
Oder hat ihr Fehlen mit dem drohenden Prozess zu tun?
Ein Kollege klopft an. »Wir sollen zu den Landungsbrücken.«
»Alle Mann?«
»Befehl von Cuddel Breuer. Waffen sind mitzuführen.«
Das fehlt mir noch, denkt Stave. Unterwegs hört er sich bei den
Kollegen um: Britische Pioniere sind morgens bei Blohm & Voss eingerückt.
Sie werden die großen Kräne und Helligen sprengen. Das hat sich irgendwie in
der Stadt herumgesprochen und nun eilen immer mehr Hamburger zum Elbufer und
starren hinüber zur Werft.
Cuddel Breuer teilt Stave vor Ort einigen Kollegen zu, die sich unter
die Wartenden an der Hochbahnhaltestelle Baumwall mischen sollen. Die Station
ist voller Menschen, dem Oberinspektor kommt es so vor, als schwankten die
hohen Stahlträger unter dem Gewicht der Menge.
Männer, Frauen, Kinder. Die Haltestelle ragt mehr als zehn Meter
über der Hafenpromenade auf, freier Blick über die Elbe und die riesigen Docks
von Blohm & Voss. Kein lautes Wort, kein Protestplakat, kein Knüppel,
niemand, der aufrührerische Reden hält. Stave ist trotzdem angespannt: überall
verbitterte Gesichter, geflüsterte Worte. Fast kann man die unterdrückte Wut
wie Elektrizität in der Luft knistern hören.
Drüben ist kaum etwas zu sehen. Die Kräne und Helligen stehen wie
hohe Spinnentiere über den Werftanlagen, lückenhafte Reihen, denn viele sind
schon im Krieg zerbombt worden. Winzige Gestalten auf und neben den Docks, so
undeutlich im Hitzedunst, der über der Elbe wabert, dass man nicht einmal
erkennen kann, ob es englische Uniformierte sind oder Arbeiter. Ein
Patrouillenboot der Briten ist auf dem Fluss, es fährt langsam, der Union Jack
hängt leblos von der Fahnenstange. Stave bemerkt, dass keine Barkasse die Elbe
quert, der übliche Tanz der Wellen ist erlahmt, das Wasser ist grau und glatt
wie ein Tuch. Sie müssen den Fluss gesperrt haben, vermutet er.
Eine Stunde. Ihm ist heiß, Salz verkrustet das Innere seiner
Hutkrempe. Seine Schulter schmerzt von der schweren Pistole im Holster. Es wird
ihm nie gelingen, eine Waffe zu tragen und dabei entspannt zu bleiben. Noch
immer drängen Menschen auf die Treppe zur Haltestelle. Soll er seinen
Polizeiausweis zücken und die Schaulustigen zurückdrängen? Er will seinen
Kollegen fragende Blicke zuwerfen, doch im Gedränge entdeckt er bloß noch zwei,
eingezwängt wie er selbst. Die anderen müssen weiter hinten stehen, unsichtbar.
Ein Kollege ignoriert ihn, der andere schüttelt kaum merklich den Kopf. Keine
gute Idee, sich gerade jetzt als Polizist zu enttarnen.
Ein kollektives Aufstöhnen plötzlich, als würden Tausende in der
gleichen Sekunde tief einatmen und die Luft anhalten, ein Seufzer wie eine
Woge. Drüben stehen, für einen winzigen, surrealen, stummen Augenblick,
schwarze Rauchpilze über den Docks. Dann rollt der Lärm heran. Der scharfe
Knall von Explosionen, gefolgt von einem seltsamen Kreischen. Stahl, denkt Stave,
der Stahl der Kräne. Die mächtigen Konstruktionen zittern, wanken, sinken
langsam, dann immer rascher zur Seite, krachen nach unten, verschwinden in
diesmal graubraunen Wolken. Schutt und Staub und neuerliches Krachen. Als der
Qualm sich endlich verzogen hat, stehen die Helligen und Kräne nicht mehr.
»Die Dinger sind auf die nagelneuen U-Boote gestürzt«, ruft ein Mann
in Arbeiterkluft. »Die haben sie gleich mit zerschlagen!«
»Die sollten sich schämen, der Krieg ist doch vorbei«, antwortet
eine kräftige Frau.
Stave blickt sich um. Zornige Gesichter überall, viele Männer
schütteln die Fäuste. Wenn sich das jetzt hochschaukelt, wird sich die wütende
Menge ein Ziel suchen. Fragt sich nur, welches. Da erblickt er Cuddel Breuer,
der, kopfschüttelnd, aber unbeirrbar, durch das Gedränge pflügt – und die
Treppe hinuntergeht. Ein ehrbarer Bürger, empört, doch nun geht er nach Hause.
Zwei, drei Gestalten folgen ihm, dann noch welche. Stave gibt seinem Kollegen
ein unauffälliges Zeichen. Er rückt seinen Hut zurecht und schiebt sich
gleichfalls Richtung Ausgang. Wieder folgen einige, schließlich immer mehr.
Gemurmelter Protest, Flüche, halblaute Empörung – aber niemand bleibt stehen.
Nach zehn Minuten ist die Haltestelle leer. Nach einer halben Stunde gehört die
Uferpromenade wieder den Flaneuren. Über Blohm & Voss steht
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