Schief gewickelt (German Edition)
sagst?« zurückzublinken, aber das nur am Rande).
Daniel war also Herr des Abteils. Nachdem er das sicher nicht ganz billige Reisekostüm der alten Dame vollgekrümelt, das Rätselheft der Erzieherin in seine Einzelteile zerlegt und das Prollmädchen dazu gebracht hatte, an ihm schon mal das Pipiwindelwechseln zu üben, war Zeit für ein Schläfchen. Dafür wählte er meinen Schoß. Der Lodenfrey-Mantel der alten Dame wurde zur Zudecke und die in ein Sweatshirt vom Prollmädchen eingewickelte Handtasche der Erzieherin zum Kopfkissen. Alle betrachteten es als große Gnade, zu seinem Mittagsschlaf beitragen zu dürfen. Die Augen leuchteten und keiner machte mehr einen Mucks.
Nur um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen – ich will mich auf keinen Fall über Leute, die sich von Daniel rumkriegen lassen, lustig machen. Ich gehöre nämlich selber dazu. Es reicht, wenn er einfach nur schläft. Ich gestehe, ich schleiche mich jeden Abend, wenn eigentlich Zeit wäre, sich zu erholen und der geliebten Partnerin zu widmen, mindestens dreimal an sein Bettchen, studiere minutenlang seine drolligen Schlafstellungen und lausche seinen Atemzügen, als wären sie Beethovens Siebte. Wenn man in diesen Augenblicken mein Gesicht fotografieren würde, könnte man das Bild für eine Anti-Scientology-Aufklärungsbroschüre verwenden. Bildunterschrift: »Gehirnwäscheopfer.«
Dass mir wegen meiner unfreiwilligen Rolle als Daniel-Reisebett nach einer halben Stunde beide Beine und ein Arm einschliefen, fand ich nicht weiter schlimm. Ich versuchte ein wenig in meiner Zeitung zu lesen, blieb aber schließlich doch immer wieder mit den Blicken an seinem süßen Schlafgesicht hängen und versank darüber in tiefe Meditation.
Nach knapp zwei Stunden gab Daniel die ersten Anzeichen des Aufwachens von sich. Die Abteilbesatzung verfolgte das Schauspiel so gebannt wie Ehrengäste einen Spaceshuttle-Start auf Cape Canaveral. Jeder noch so kleine Grunzer wurde mit ehrfürchtigem Raunen bedacht, und dem Prollmädchen schossen vor Rührung glatt die Tränen in die Augen. Was er wohl als Erstes sagen würde? Durst? Hunger? Wo ist Mama?
Aber nein: »Mein Penis ist schon wieder steif.« So ist er, mein Sohn.
Er genießt natürlich weiter die volle Zuwendung. Nur ich bin unten durch. Penispapa. Kinderschänder. Zum Glück ist es nur noch eine halbe Stunde bis Berlin. Ich fühle, wie sich die erste Hälfte der Erholung, die mir die Woche bei Daniels Großeltern gebracht hat, in Luft auflöst.
Das ist übrigens auch schon wieder so was. Ich sage Daniels Großeltern. Dabei sind es doch meine Eltern . Ausgerechnet ich, der früher die meisten Eltern-Kind-Szenen, die sich vor meinen Augen abspielten (wir wohnen in Prenzlauer Berg), mit verächtlichen »Ts, ts, ts, ihr stellt doch eure Blagen viel zu sehr in den Mittelpunkt«Blicken bedacht hat, nenne meine Eltern Daniels Großeltern. Erschreckend.
Aber ich habe schon lange keine Kraft mehr, mich selbst mit verächtlichen Blicken zu strafen. Überhaupt, die Großeltern. Wichtigste Stützpfeiler aller jungen Eltern. Von wegen. Simone und ich mussten ja unbedingt zum Studieren nach Berlin. War auch gut so. Sonst hätten wir uns nicht kennengelernt und so weiter. Aber jetzt? Stehen unsere wichtigsten Stützpfeiler im Allgäu und in Ostwestfalen. Und damit nicht genug. Unsere Stützpfeiler sind allesamt im Ruhestand. Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, wunderbar, jetzt können sie sich ja auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren und stützen, stützen und nochmals stützen. Zweitwohnung in Berlin, Bahncard de luxe und so weiter, aber weit gefehlt.
Um das Problem kurz in drei Kernpunkten zusammenzufassen: Es gibt viel zu viele Freizeitangebote für Senioren, die Renten sind viel zu hoch und die Werbung schürt in unverantwortlicher Weise ihren Erlebnishunger. Großeltern sein allein reicht ihnen nicht mehr. Da wird mit der Harley durch Süditalien gefahren, ein Tai-Chi-Kurs auf Malta gebucht und kein Kirchentag mehr ausgelassen. Wenn du da mal eine Woche Kinderbetreuung rausschinden willst, tust du gut daran, dich ein Jahr vorher anzumelden. Was ist denn jetzt schon wieder los?
»Kacka.«
Natürlich. Nein, jetzt geht nichts mehr. Wir sind in sechs Minuten am Hauptbahnhof. Machen wir, wenn wir draußen sind. (Außerdem stehen dann die Chancen gut, dass Simone es macht.)
»Kacka!«
Daniel heult. Man riecht die Bescherung nicht nur, man sieht sie auch. Sie suppt durch die Hose. Von
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