Schiff der tausend Träume
Doch überraschenderweise fanden sich einige Zuhörer. Es gab Gottesdienste für die Frommen, aber daran hatte Roddy kein Interesse. Nach allem, was er auf dem Schlachtfeld erlebt hatte, bezweifelte er stark, dass irgendeine göttliche Macht diesen Krieg unter Kontrolle hatte. Alles, woran er denken konnte, war, hier herauszukommen.
Allerdings ging er zum Italienischunterricht, weil man nie wusste, wozu es gut sein könnte. Der italoamerikanische Priester, der den Unterricht leitete, war zwar mehr Amerikaner als Italiener, aber er machte seine Sache gar nicht so schlecht.
Trotz seiner Vorbehalte gegenüber der Religion gefiel Roddy dieser Padre, Pater Frank. Er war klein und dunkel, jünger als er, mit einer freundlichen ruhigen Art. Er hatte zwei Soldaten in einem Schützengraben gerettet. Selbst deutsche Soldaten sahen meist davon ab, Priester zu erschießen, die gerade die Letzte Ölung gaben. Seine neueste Idee war es, eine Musikgruppe zu gründen – es waren ein Grammophon und ein paar Schallplatten ins Lager geschickt worden. Natürlich handelte es sich hauptsächlich um klassische Musik, aber es tat trotzdem gut zuzuhören und vor seinem inneren Auge andere Bilder entstehen zu lassen.
Heute hatten sie Dvorˇáks 9 . Sinfonie »Aus der Neuen Welt« aufgelegt, die voller Anklänge an Volkslieder und Spirituals war, so dass Roddy Sehnsucht nach der Weite von Ohio empfand.
»Ich denke, wir sollten einen Chor gründen«, sagte der Padre. »Wir könnten ein Konzert geben, irgendeine Vorstellung. Wenn ich zehn oder zwanzig Stimmen zusammenbekomme, könnten wir etwas auf die Beine stellen.«
»Ohne mich«, sagte der Mann neben ihm sofort. »Ich bin leider völlig unmusikalisch.« Warum, so fragte sich Roddy, lauschte er dann der Musik?
»Und ich kann keine Noten lesen«, verkündete ein weiterer Mann und stand auf.
»Wer hat denn was von Notenlesen gesagt?«, meinte der Priester schmunzelnd. »Wir singen einfach aus dem Gedächtnis, bis wir vielleicht ein paar Notenblätter geschickt bekommen.« Er wandte sich an Roddy. »Was ist mit Ihnen, Captain Parkes?«
Roddy war schon halb durch die Tür und hob abwehrend die Hände. »Das letzte Mal, als ich in der Öffentlichkeit gesungen habe, trug ich kurze Hosen.« Er lachte.
»Wo war das?«
»In Lichfield.«
»Litchfield, Connecticut?«
»Nein, Lichfield, England. Ich habe in der Kathedrale gesungen. Bis bald, Padre.«
»Ho, nicht so schnell. Das klingt ja, als hätte ich meinen ersten Rekruten – nichts weniger als einen Domchorsänger!« Der Geistliche folgte ihm.
»Verdammt … entschuldigen Sie, Padre, ich meine, nein. Ich weiß nicht, was jetzt aus meinem Mund kommen wird, wenn ich ihn aufmache.«
»Das weiß keiner von uns, das ist ja die Herausforderung. Wir nehmen das, was kommt, Captain, und arbeiten daran.«
Auf einmal war es ein »Wir« geworden. Roddy stöhnte innerlich. »Nennen Sie mich Roddy, Padre.«
»Dann sehen wir uns heute Abend bei Sonnenuntergang, Captain Roddy. Warum nicht sofort anfangen? Man weiß nie, was morgen kommt. Und vielleicht haben wir ja einen Caruso in unserer Mitte«, meinte er lachend, zufrieden über den Neuzugang.
Wie bin ich da nur hineingeraten?, dachte Roddy kopfschüttelnd, aber er wusste, er würde hingehen. Was gab es in diesem Loch denn sonst zu tun?
Frank hatte seine Krankenbesuche erledigt. Es gab eine Art Krankenstation, nicht besonders gut ausgestattet, aber der Arzt stockte regelmäßig seinen Erste-Hilfe-Koffer auf und forderte den ihnen zustehenden Nachschub vom Roten Kreuz. Er wirkte erschöpft, als hätte er dringend eine Pause nötig.
»Gehen Sie nur und rauchen Sie eine«, sagte Frank. »Ich kann hier übernehmen, wenn Sie mir sagen, worauf ich achten soll.«
Er hatte Beichten gehört und für einen Mann, der an starkem Fieber erkrankt war, einen kurzen Brief nach Hause geschrieben. Er war froh, sich nützlich machen zu können. Die Toiletten hier waren entsetzlich, nicht mehr als Bretter mit Löchern darin, und die Fäkalien wurden über die Laufplanken bis zu den Hütten weitergetragen, egal, wie sehr man sich vorsah.
»Infektionen fürchte ich am meisten, vor allem Typhus«, sagte der Arzt. Es war heiß. Es gab Fliegen. Die Arbeitseinheiten kamen sonnenverbrannt, zerstochen und erschöpft von den Feldern zurück, aber immerhin erhielten so die noch kräftigen Männer eine Chance, ihre Frustration abzubauen. Langeweile war der wahre Feind. Niemand wusste, was in der Außenwelt vor sich
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