Schiff der tausend Träume
weiß, dass du alles gern so machen würdest, wie er es gewollt hätte.«
»Du hast gut reden, du hast Archie«, erwiderte Ella bissig.
»Du vergisst, dass ich Roddy allein aufgezogen habe, und es war hart. Ich musste für uns beide arbeiten. Seien wir ehrlich, Ella, Clare ist in einem schwierigen Alter, aber das wird vorübergehen. Kaum, dass du dich umdrehst, wird sie in Seidenstrümpfen herumlaufen.« Sie versuchte, die Stimmung aufzulockern.
»Sag so was nicht. Sie ist alles, was ich habe.« Ella begann zu weinen.
»Du machst das doch sehr gut. Ich will dir nur sagen: lass dir helfen und dich hin und wieder von uns entlasten. Je mehr sie mit anderen Erwachsenen zusammen ist, desto mehr kannst du dich einmal ausruhen und etwas für dich tun.«
»Ich will aber keine Ruhe, und ich will auch nichts tun. Ich will nur die Gewissheit, dass es Anthony gutgeht«, rief sie.
»Das weiß ich, mein Schatz, aber wenn er nun nicht wieder zurückkommt …« Die Worte hingen in der Luft.
»Sag das nicht, ich will nichts davon hören. Sei nicht so grausam!«
»Aber es sind nun schon fast fünf Monate vergangen. Du musst die Möglichkeit in Betracht ziehen …«
»Das kann und will ich aber nicht. Wie soll ich weiterleben, wenn es so wäre?«
»Das wirst du, und das musst du, um Clares willen, so wie deine eigene Mutter deinetwegen weiterlebte.«
»Das war etwas anderes«, widersprach Ella beleidigt.
»Nein, war es nicht. Dies ist dein
Titanic
-Erlebnis, weil du den größten Verlust deines Lebens erfährst, so wie Tausende andere auch. Aber du wirst weiterleben, so wie Anthony es gewollt hätte. Wie kannst du auch nur darüber nachdenken, sein Kind allein zu lassen? Er würde wollen, dass du all das tust, was du schon vor ihm getan hast, dass du die Fäden wieder aufnimmst und etwas Neues und Wunderbares daraus webst. Das ist das Einzige, was wir nach einer solchen Tragödie tun können. Du machst einfach weiter, einen Tag nach dem anderen. Es ist eine große Offensive im Gange. Hast du all die Konvois gesehen, die Richtung Süden ziehen? Die Straßen sind voller Panzer, Lastwagen und Truppen, die sonstwohin marschieren. Sie sagen, es geht bald los, und ich bitte Gott, dass dieser Wahnsinn dann ein Ende haben wird.«
»Du glaubst nicht, dass er noch lebt, oder?« Ella setzte sich und schlug die Hände vors Gesicht.
»Wir müssten eigentlich schon etwas gehört haben. Es sieht nicht gut aus, aber vielleicht irre ich mich. Ich hoffe es«, antwortete Celeste mit wenig Überzeugung, während Ella die Teller zusammenstellte und aufstand und dabei sah, dass Clare ihre Toaststreifen genüsslich ins Eigelb tunkte.
Celeste blickte auf und lächelte. »Siehst du, ein Kind merkt genau, wann Schluss ist. Sobald sie nicht mehr im Rampenlicht stand, hat sie von ganz allein weitergegessen.«
Sie lächelten einander immer noch an, als plötzlich die Türglocke läutete. Ella fuhr zusammen. »Die Post!«
Celeste goss gerade Tee auf, als Ella zurückkam und ein Telegramm auf den Tisch legte. »Es ist für dich.«
»Doch nicht Archie?« Ungelenk riss sie den Umschlag auf. Als sie die Worte las, musste sie blinzeln, dann schleuderte sie die Nachricht über den Tisch. »Es ist Roddy. Er wird in Italien vermisst, vermutlich gefallen.«
Verwirrt sah Clare auf, als die beiden Frauen sich schluchzend in die Arme fielen. »Wieder Soldaten da?«
113
Italien 1944
Mit der Zeit kann man sich an alles gewöhnen, dachte Roddy, als er aus dem Viehwaggon stolperte und ins grelle Sonnenlicht blinzelte. Er befand sich in einem neuen Lager irgendwo in den italienischen Bergen und hoffte, es wäre besser als das letzte Durchgangslager in der Nähe von Rom, das sie »Filmstudio« genannt hatten. Näher war er der ewigen Stadt nicht gekommen.
Nach dem Überfall hatten sie die Hände hochnehmen und marschieren müssen, eine lange Zeit, während ihnen zähnefletschende Hunde um die Füße sprangen. Sie hatten Glück gehabt, dass sie nicht sofort erschossen worden waren, aber der deutsche Offizier gehörte zum alten preußischen Militäradel und zeigte Respekt für die Genfer Konvention. Allerdings hatte man ihnen alle Wertsachen abgenommen – Armbanduhren, Feuerzeuge und Ringe – und stieß sie vorwärts, während sie über das zerklüftete Terrain stolperten. Dann wurden sie in Viehwagen verladen und fuhren meilenweit ohne Wasser und Verpflegung, bis sie vollkommen erschöpft in einem Auffanglager ankamen. Andere Männer standen herum und
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