Schiff der tausend Träume
ging. Neuankömmlinge wurden sofort nach Neuigkeiten ausgefragt, ob die Alliierten weiter vorgedrungen seien, doch der Vormarsch nach Norden ging langsam vonstatten, zu langsam, als dass die Verbündeten ihr Lager erreichen und sie befreien könnten.
Frank war neugierig, wie es in dieser Gegend aussah. Sie mussten sich hier ganz in der Nähe des Ortes befinden, an dem sein Vater geboren war. Der Hof der Bartolinis konnte nicht weit entfernt liegen. Er versuchte, sich an die Briefe zu erinnern, die von der Familie seines Vaters aus der Toskana gekommen waren, und was sein Vater über den Bauernhof gesagt hatte, der an einem Berg in der Nähe der berühmten Stadt Anghiari lag, in dessen Nähe auch Michelangelo geboren worden war. So nah zu sein und dennoch so fern … Warum hatte er nicht besser aufgepasst, als es um die Geschichte seiner Familie gegangen war?
Nachdem Italien im September 1943 einen Waffenstillstand mit den Alliierten geschlossen hatte und die Deutschen das Land mit strengem Regime besetzten, wurden auch ein paar Ortsansässige im Lager inhaftiert. Die Situation war festgefahren. Ein alter Priester wollte die italienischen Gefangenen aufsuchen und meldete sich beim Kommandanten, um auch mit dem gefangenen amerikanischen Geistlichen Kontakt aufnehmen zu dürfen. Als er hörte, dass Franks Nachname Bartolini war, bot er trotz des großen persönlichen Risikos an, über ein geheimes Netzwerk Kontakt mit der Familie aufzunehmen.
Aber hatte das noch Sinn? Wenn die Alliierten nicht bald kämen, würden die Gefangenen in Lastwagen weiter nach Norden transportiert, und dann bliebe ihm ohnehin keine Gelegenheit, die Familie seines Vaters zu besuchen. Auch Frank grübelte stundenlang in der heißen Stille des Lagers, was die Zukunft wohl für sie alle bereithielt.
Wenigstens, dachte er, machte sein Chor nach einiger Überredungskunst endlich Fortschritte. Captain Roddy sang einen erstaunlich guten Bass, sie hatten ein paar Tenöre gefunden, und er plante bereits ein kleines Konzert. Sie übten »Swing Low, Sweet Chariot« und »Alexander’s Ragtime Band«. Es klang ein bisschen kitschig, aber immerhin waren die Melodien allen bekannt.
Mit Roddy Parkes verstand er sich ausnehmend gut. Sie hatten sich bei einem Vortrag über die
Titanic
getroffen, bei deren Untergang der Vortragende seinen Onkel verloren hatte. Er berichtete von allen möglichen Details und Daten des Unglücks. Die meisten Männer hatten das Ereignis schon fast vergessen, und der Vortragsabend war recht öde, bis Roddy aufstand und sagte: »Meine Mutter war auch an Bord.« Er erzählte ihnen, wie sie sich im Rettungsboot mit einer Frau und ihrem Kind angefreundet hatte, und wie später alle zusammen in England gelandet waren. Offenbar hatte Roddy als Kind in Washington, D. C., höchstpersönlich die »unsinkbare« Molly Brown kennengelernt. Sie diskutierten darüber, wie bevorzugt die Passagiere der ersten Klasse behandelt wurden, während die Passagiere der dritten Klasse keine Chance gehabt hatten, sobald das Schiff zu sinken begann.
Dann hatte Frank seine eigene Geschichte beigesteuert. »Auch ich bin nur wegen der
Titanic
hier. Die erste Frau meines Vaters, Maria, ist mit dem Schiff ertrunken«, fügte er hinzu. »Und seine kleine Tochter. Man hat sie nie gefunden, aber mein Vater war überzeugt, dass das Baby noch lebt, weil er das hier gefunden hatte.« Er zog den kleinen Schuh aus Spitze aus der Tasche, der ganz schmutzig und zerknüllt war. »Er glaubt immer noch, dass es ihrer war.« Er ließ den Schuh herumgehen. »Und er gab ihn mir als Talisman. Mein Papa meinte, wenn er den Atlantik überlebt habe, könne er mich auch vor Seekrankheit bewahren.« Er schwieg einen Moment, dann lachte er. »Das hat er aber nicht. Ich habe mich die ganze Fahrt lang übergeben. Ich sollte ihn wohl besser wegwerfen, aber das werde ich nicht. Es ist der Schuh eines Kindes.«
»Schuhe bringen Glück. Manche legen sie zum Schutz unter ihr Hausdach. Fragt mich nicht, warum, aber es ist so«, sagte einer der Männer in der Runde.
Nun fingen alle an, über die Mythen und Legenden zu sprechen, die sich um die
Titanic
rankten: dass eine geheimnisvolle ägyptische Mumie an Bord gewesen sein sollte, auf der ein Fluch gelegen habe, ein Geldschrank voll gestohlener Diamanten und die Geister der beim Bau in Belfast verstorbenen Schweißer, die in einen engen Spalt im Rumpf geraten seien. Nach diesem Vortrag plauderten Frank und Roddy noch ein
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