Schiffbruch Mit Tiger
glatten Kieselsteinen. Der Mann erklärte mir eben, wie das Brot auf diesen heißen Steinen gebacken wurde, da wehte der näselnde Ruf des Muezzins von der Moschee herüber. Es war, das wusste ich, der Ruf zum Gebet, aber ich hatte keine Vorstellung, was das bedeutete. Ich hatte erwartet, dass er die Gläubigen zur Moschee rief, so wie die Christen von der Glocke zur Kirche gerufen wurden. Aber es war anders. Der Bäcker brach mitten im Satz ab und sagte: »Entschuldige.« Er ging kurz in den Raum nebenan und kehrte mit einem zusammengerollten Teppich zurück, den er, wobei eine kleine Mehlwolke aufstob, auf dem Boden seiner Backstube ausbreitete. Und direkt vor meinen Augen, mitten an seinem Arbeitsplatz, betete er. Es war ein merkwürdiger Anblick, aber nicht er kam mir fehl am Platze vor, sondern ich. Zum Glück betete er mit geschlossenen Augen.
Er stellte sich aufrecht hin. Er murmelte etwas auf Arabisch. Er legte die Hände an die Ohren, Daumen an den Ohrläppchen, als horche er angestrengt auf Allahs Antwort. Er neigte sich vor. Er richtete sich auf. Er ging in die Knie und berührte mit Händen und Stirn den Boden. Er setzte sich auf. Er verneigte sich noch einmal. Er stand auf. Dann begann er mit allem von vorn.
Der Islam ist ja nichts weiter als eine Andachtsübung, dachte ich. Joga für die Beduinen, nicht zu anstrengend, weil es bei ihnen so heiß ist. Asanas ohne Schweiß, Himmel ohne Mühe.
Viermal machte er diese Übung und murmelte dabei unablässig. Als er fertig war - zum Schluss hatte er den Kopf nach rechts und dann nach links gewendet und danach ein paar Augenblicke lang still dagesessen, wie in Meditation -, schlug er die Augen auf, lächelte, trat neben seinen Teppich und rollte ihn mit einer einzigen Handbewegung zusammen, die von langer Routine sprach. Er brachte ihn zurück an seinen Platz nebenan. Dann kam er wieder zu mir. »Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte er.
So hatte ich also zum ersten Mal einen Muslim beim Gebet gesehen - zielstrebig, energisch, ökonomisch, leise, faszinierend. Als ich wieder in der Kirche betete - auf den Knien, reglos, still vor Christus am Kreuz -, erschien immer wieder dies Bild vor meinen Augen, die kallisthenische Kommunion mit Gott, umgeben von Mehlsäcken.
Kapitel 19
Ich besuchte ihn wieder.
»Worum geht es bei eurer Religion?«, fragte ich.
Seine Augen leuchteten. »Es geht um Liebe.«
Ich möchte den Menschen sehen, der den Islam, den Geist, der dahintersteckt, begreift und ihn nicht liebt. Es ist eine wunderbare Religion, voller Brüderlichkeit und Treue.
Die Moschee war ein in jedem Wortsinn offener Bau, offen für Gott und für die frische Luft. Wir saßen mit gekreuzten Beinen und lauschten dem Imam, bis die Stunde des Gebets gekommen war. Nun kam Ordnung in das bunte Durcheinander; alle erhoben sich und stellten sich Schulter an Schulter in Reihen auf; wo vorne etwas freiblieb, traten die Dahinterstehenden vor, bis die Gläubigen in geschlossenen Reihen standen. Es war ein schönes Gefühl, wenn die Stirn den Boden berührte. Als hätte man unmittelbar Kontakt mit dem Göttlichen.
Kapitel 20
Er war ein Sufi, ein muslimischer Mystiker. Er strebte nach
fana,
der Einheit mit Gott, und seine Beziehung zu Gott war persönlich und voller Liebe. »Wenn du auch nur zwei Schritte auf Gott zumachst«, sagte er immer, »kommt Gott dir entgegengelaufen!«
Er war ein sehr unauffälliger Mann - nichts an seinem Gesicht oder seiner Kleidung gab dem Gedächtnis Halt. Es wundert mich gar nicht, dass ich ihn anfangs nicht sah, als wir uns das erste Mal begegneten. Selbst als ich ihn schon sehr gut kannte, hatte ich jedes Mal von neuem Mühe, ihn zu erkennen. Er hieß Satish Kumar. Beides sind häufige Namen in Tamil Nadu, und der Zufall ist nicht so verblüffend, wie man denken könnte. Aber es machte mir doch Vergnügen, dass dieser fromme Bäcker, unauffällig wie ein Schatten und bei bester Gesundheit, und der kommunistische Biologielehrer und Wissenschaftsanbeter, der Berg von Mann, der, geschlagen von der Kinderlähmung, auf Beinen wie Stelzen daherkam, denselben Namen trugen. Mr und MrKumar lehrten mich Biologie und Islam. Mr und MrKumar verdanke ich es, dass ich Zoologie und Religionswissenschaften an der Universität von Toronto studierte. Mr und MrKumar waren die Propheten meiner indischen Jugend.
Wir beteten gemeinsam und übten uns im
dhikr,
dem Rezitieren der neunundneunzig offenbarten Namen Gottes. Er war ein
hafiz,
einer, der den
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