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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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Aber das hatte ich schon vorher gesehen, und das Schiff war nicht davon gesunken. So ein Frachter hat eine enorme Wucht und Stabilität, ein Meisterstück der Ingenieurskunst. Er ist so gebaut, dass er auch in der schwersten See nicht untergeht. Das war doch kein Sturm, der ein Schiff versenkte? Ich musste ja nur die Tür zumachen, und der Wind war fort. Ich ging hinaus auf Deck. An die Reling geklammert, trotzte ich den Elementen. Wenn das Abenteuer winkte, dann hier.
    »Kanada, ich komme!«, brüllte ich, als die eiskalte Gischt mich durchnässte. Ich kam mir sehr tapfer vor. Es war noch dunkel, aber doch genug Licht, dass man etwas erkennen konnte. Und was das Licht beschien, war ein Pandämonium. Es ist schon erstaunlich, was für ein Schauspiel die Natur auf die Bühne bringen kann. Die Kulissen sind gewaltig, die Beleuchtungseffekte dramatisch, die Zahl der Komparsen ist gar nicht zu zählen, und das Budget für Spezialeffekte ist schlicht und einfach unerschöpflich. Was ich vor mir sah, war ein Spektakel aus Wind und Wasser, ein Vulkanausbruch der Sinne, wie nicht einmal Hollywood ihn inszenieren konnte. Aber der Boden unter meinen Füßen blieb fest. Ich war der Zuschauer auf dem Kinositz, bis zu dem die Lava nie aufspritzte.
    Erst als ich hinauf zu einem Rettungsboot oben an der Brücke blickte, machte ich mir allmählich Sorgen. Das Boot hing nicht gerade, es hing schräg an seinen Flaschenzügen. Ich betrachtete meine Hände an der Reling. Die Fingerknöchel waren weiß. Nicht das Wetter ließ mich so fest anklammern. Ich hielt mich an die Reling, weil ich sonst zur Schiffsmitte hin gerutscht wäre. Das Schiff hatte Schlagseite, nach Backbord hin, mir gegenüber. Nicht viel, aber doch genug, dass es mich beunruhigte. Als ich über die Reling blickte, sah ich nicht mehr geradewegs ins Wasser. Ich sah unter mir die große schwarze Flanke des Schiffs.
    Ein kalter Schauder durchlief mich. Es musste wohl doch ein Sturm sein. Besser, ich brachte mich in Sicherheit. Ich ließ los, schlitterte zur Wand, arbeitete mich vor zur Tür und zog sie auf.
    Aus dem Inneren des Schiffs drangen Laute herauf. Ein tiefes metallisches Stöhnen. Ich stolperte und schlug lang hin. Aber ich tat mir nicht weh. Ich rappelte mich auf. Ich hielt mich an den Geländern fest und sprang die Treppe hinunter, vier Stufen auf einmal. Schon in der ersten Etage unter Deck sah ich das Wasser. Überall Wasser. Ich konnte nicht weiter. Es kam von unten heraufgesprudelt wie eine wütende Menschenmenge, es schäumte, es kochte. Treppen verschwanden im dunklen Strom. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah. Was hatte das Wasser dort oben zu suchen? Wie kam es herauf? Ich stand wie angewurzelt, erschrocken, ungläubig, unfähig, einen Gedanken zu fassen, was ich als Nächstes tun sollte. Da unten war meine Familie.
    Ich rannte die Treppe wieder hinauf. Ich lief aufs Hauptdeck. Jetzt war das Wetter kein Schauspiel mehr. Ich fürchtete mich davor. Inzwischen war es nicht mehr zu übersehen: das Schiff hatte schwere Schlagseite. Und auch das Heck hing viel tiefer. Ich warf einen Blick über die Reling. Das Wasser war keine dreißig Meter mehr entfernt. Das Schiff sank. Ich konnte es nicht glauben. Es war so unvorstellbar, als hätte der Mond plötzlich Feuer gefangen.
    Wo waren die Offiziere und die Mannschaft? Warum taten sie nichts? Achtern sah ich im Halbdunkel ein paar Männer laufen. Ich hatte auch das Gefühl, ich sähe Tiere, aber das tat ich als Trugbild von Regen und Schatten ab. Tagsüber hatten wir die Luken über ihren Quartieren offen, wenn das Wetter gut war, aber in ihren Käfigen blieben sie stets. Es waren schließlich gefährliche wilde Tiere, die wir da beförderten, kein harmloses Vieh. Mir war, als hörte ich Rufe über mir auf der Brücke.
    Das Schiff schüttelte sich, und dann kam dieser Laut, das unglaubliche metallische Rülpsen. Was war das? War es ein großer Schrei, Menschen und Tiere wie aus einer Kehle, ein Schrei des Protests gegen den bevorstehenden Tod? War es das Schiff selbst, das den Geist aufgab? Ich fiel hin. Ich kam wieder auf die Beine. Ich blickte noch einmal über die Reling. Das Wasser stieg. Die Wellen kamen zusehends näher. Wir sanken immer schneller.
    Ich hörte Affen schreien, unverkennbar. Das Deck bebte. Ein Gaur - ein indischer Bison - brach aus dem Regen hervor und donnerte vorbei, in Panik, von nichts aufzuhalten. Ich sah ihn an, verblüfft, ungläubig. Wer um Himmels willen hatte den

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