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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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stumpf, das Boot hatte, wenn man so sagen will, eine Stupsnase - saß die Plane nicht ganz so fest wie an den Seiten. Da wo das Seil vom Haken auf der einen zum Haken auf der anderen Seite ging, stand sie ein wenig hoch. Ich hob das Ruder und steckte den Stiel in diese Öffnung, in die kleine Unregelmäßigkeit, die mir das Leben retten konnte. Ich schob ihn nach innen, so weit er sich schieben ließ. Damit hatte das Rettungsboot nun einen Bugspriet, der über den Wellen vorausragte. Ich machte einen Klimmzug und klammerte mich mit den Beinen daran. Der Stiel drückte die Plane nach oben, doch Plane, Seil und Ruder hielten. Ich war aus dem Wasser, wenn auch nur einen halben, manchmal einen dreiviertel Meter über den tanzenden Wellen. Bei den größeren streifte die Schaumkrone mich nach wie vor.
    Ich war allein, ein Waisenjunge mitten auf dem Pazifik, der sich an ein Ruder klammerte, ein ausgewachsener Tiger vor mir, Haie unter mir, der tosende Sturm über mir. Hätte ich vernünftig über meine Aussichten nachgedacht, so hätte ich gewiss einfach das Ruder losgelassen und hätte nur noch gehofft, dass ich ertrinke, bevor ich gefressen werde. Aber soweit ich mich erinnere, ging mir in diesen ersten Augenblicken der Sicherheit nicht ein einziger Gedanke durch den Kopf. Ich bemerkte nicht einmal, dass es Tag geworden war. Ich klammerte mich an das Ruder und hielt einfach nur fest, Gott weiß warum.
    Nach einer Weile fiel mir ein, was ich mit dem Rettungsring tun konnte. Ich zog ihn aus dem Wasser und stülpte ihn über das Ruderblatt. Ich zog ihn heran, bis ich ihn um Ruder und mich gelegt hatte, und nun musste ich mich nur noch mit den Beinen anklammern. Zwar konnte ich mich dann nicht mehr so schnell ins Wasser fallen lassen, wenn Richard Parker erschien, aber ich musste meine Schrecken einen nach dem anderen bedenken, zuerst den Pazifik, dann den Tiger.

Kapitel 41
    Die Elemente ließen mir mein Leben. Das Rettungsboot sank nicht. Richard Parker blieb, wo er war. Die Haie hielten mich im Auge, aber sie sprangen nicht. Die Wellen schlugen zu mir hoch, aber sie rissen mich nicht hinab.
    Ich sah zu, wie das Schiff unter großem Blubbern und weiterem Rülpsen versank. Lichter flackerten, dann gingen sie aus. Ich hielt Ausschau nach meiner Familie, nach Überlebenden, nach einem zweiten Rettungsboot, nach allem, was Hoffnung sein konnte. Aber ich sah nichts. Nur Regen, mörderische Wellen, die Trümmer der Tragödie.
    Der Himmel wurde lichter. Der Regen hörte auf.
    Ich konnte nicht ewig an dem Ruder hängen bleiben. Mir war kalt. Der Nacken tat mir weh, weil ich den Kopf so mühsam hochhielt und so oft zum Ausschauhalten gereckt hatte. Mein Rücken schmerzte, weil ich mich an den Rettungsring drückte. Und wenn ich andere Boote sehen wollte, musste ich weiter nach oben.
    Zentimeter um Zentimeter arbeitete ich mich an dem Ruder vor, bis ich mit den Füßen das Boot berührte. Ich musste mit äußerster Vorsicht vorgehen. Ich ging davon aus, dass Richard Parker am Boden des Rettungsboots unter der Plane lag, mit dem Rücken zu mir, das Zebra im Blick, das er inzwischen mit Sicherheit gerissen hatte. Von allen fünf Sinnen verlassen Tiger sich am meisten auf ihre Augen. Ihr Gesichtssinn ist enorm hoch entwickelt, besonders wenn es um das Entdecken von Bewegung geht. Ihr Gehör ist gut. Der Geruchssinn ist nur durchschnittlich. Durchschnittlich für ein Tier, meine ich. Im Vergleich zu Richard Parker war ich blind und taub, meine Nase nonexistent. Aber im Augenblick konnte er mich nicht sehen und konnte mich, solange ich so nass war, wahrscheinlich auch nicht riechen, und so wie der Wind pfiff und die Wellen tosten, würde er mich, wenn ich mich vorsah, auch nicht hören. Eine gewisse Chance hatte ich, solange er mich nicht bemerkte. Wenn er spürte, dass ich da war, war es um mich geschehen. Ich überlegte, ob er wohl durch die Plane kommen könnte.
    Furcht und Vernunft rangen um die Antwort. Die Furcht sagte Ja. Er war ein wildes, 450  Pfund schweres Raubtier. Jede einzelne seiner Krallen war scharf wie ein Messer. Die Vernunft sagte Nein. Die Plane war schließlich dickes Öltuch, kein japanisches Reispapier. Ich war aus ziemlicher Höhe darauf gelandet, und sie hatte gehalten. Mit genügend Zeit und Mühe konnte Richard Parker sie mit den Krallen zerfetzen, aber er konnte nicht durch sie hindurchbrechen wie ein Springteufel. Und er hatte mich nicht gesehen. Da er mich nicht gesehen hatte, gab es für ihn keinen Grund,

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