Schiffbruch und Glücksfall
attraktiven Goldzähnen.
»War ’ne gute Zeit für Brignogan«, meinte Tomaz und schlürfte seinen Cidre. »Damals, vor der Krise. Da kamen die Sommerfrischler. Mein Vater war Bahnhofsvorsteher. Stolz war er auf seine Uniform, und oft hat er von den Reisenden erzählt, die eintrafen. Reiche Städter, die mit ihren Dienerschaften hier Unterkunft gemietet haben. Und viele, die sich hier Grundstücke gekauft haben und dann ihre Sommerhäuser drauf bauten.«
»Villen, keine schäbigen Strandhäuser.«
»Und ihre Boote und Yachten brachten sie her.«
»Seit wann gibt es denn hier einen Bahnhof?«, fragte Kelda neugierig.
»Schon vor meiner Geburt. Der war schon da, als ich noch am Gängelband ging.«
Und das war neunzig Jahre her. Kelda rechnete und kam zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung des Örtchensso in den ersten Jahren von 1900 eingesetzt hatte. Eine Boom-Zeit. Die Industrialisierung veränderte die Gesellschaft in Windeseile. Der Adel verlor, die Fabrikanten gewannen. Die technische Entwicklung brachte weitere Umwälzungen. Vielleicht nicht hier am Ende der Welt, aber die Auswirkungen bekam man auch hier zu spüren und den großen Börsenkrach demzufolge auch. 1929/30 waren Schicksalsjahre für die ganze Welt. Unzählige Vermögen wurden vernichtet, zogen Menschen mit ins Unglück.
»Womit hat denn Monsieur Bellard sein Vermögen gemacht, dass er sich eine solch große Villa leisten konnte?«, fragte sie. »War das auch nur eine Sommerresidenz, oder wohnte er die ganze Zeit hier?«
»Der war aus Paris. Der hat hier Geschäfte gemacht. Grundstücke gekauft. Ganz billig. Hat meinen Großvater übers Ohr gehauen mit einem riesigen Acker. Und den dann in kleine Parzellen aufgeteilt und an seine Kunden für teuer Geld weiterverkauft.«
»War dein Großvater selbst dran schuld, Armand. Hätt’ ja selbst an die Parisiennes verkaufen können.«
»Und außerdem hat deine Mutter später gute Geschäfte mit denen gemacht.«
Der ganze Ort hatte von dem touristischen Aufschwung profitiert, hörte Kelda aus diesen Bemerkungen heraus. Die Pariser, die die Villen bezogen, brauchten Dienstpersonal, wollten essen gehen, fanden es kurios, sich mit den örtlichen Produkten einzudecken. Aber vermutlich nicht nur die Villenbesitzer, sondern auch andere Sommerfrischler zog es aus den Städten ans Meer. Die Eisenbahn machte es möglich, auch nur mal für wenige Tage herzukommen. Für die geschäftstüchtigen Einwohner sicher ein reiches Betätigungsfeld.
»Aber nach der Weltwirtschaftskrise hat sich MonsieurBellard wieder saniert«, brachte Kelda das Gespräch wieder auf ihren goldzahnigen Freund.
»Hat nicht lange gedauert. Er hatte schon ein Gespür fürs Geschäft. War kurz vor Kriegsbeginn, da ist er wieder in die Villa gezogen. Und Madame trug wieder Pariser Couture und gab Feste für die feinen Leute.«
»Wie alt war Jerôme Bellard zu dieser Zeit? Ich meine, wenn er schon in den Zwanzigern große Geschäfte gemacht hat, müsste er wohl so um die vierzig bis fünfzig gewesen sein.«
»Madame Bellard ist 1964 zweiundachtzig gewesen, also war sie zu Kriegsbeginn siebenundfünfzig. Ich glaube nicht, dass ihr Gatte jünger war als sie«, korrigierte Paulette sie.
»Glaub ich auch nicht. Wird an die sechzig gewesen sein. Noch ein richtiger junger Springer!«, keckerte Loïc. Gut, mit neunzig sah man das wohl so.
»Ja, jung genug, dass er mit einem Flittchen nach Paris abgehauen ist.«
»Ist der nicht, du Schafskopp. Er wurde erschossen.«
»Ach so, ja. Tja, war er wohl doch nicht mehr so ein junger Hengst.«
»Madame hat es aber geglaubt.«
»Wird ihre Gründe dafür gehabt haben.«
»Na, ich weiß nichts davon. In den Jahren trug ich Marine-Uniform und tat meinen Dienst vor Norwegen. Da hatten wir alle an anderes zu denken.«
Tatsächlich, das war wohl so. Kelda bedankte sich für die ausführliche Geschichtsstunde und half Paulette, die Tische abzuräumen.
»Geh an den Strand, Kelda«, schlug Marie-Claude vor. »Es ist jetzt Ebbezeit.«
»Ich würde lieber einen Ausflug ins Land machen. Ich habe keine Lust, Matt und seiner Clique zu begegnen.«
Sie nickte. Kelda hatte ihr von seinem Auftritt am Vormittag erzählt.
»Nimm mein Auto, ich brauche es heute nicht.«
»Danke. Ich helfe dir heute Abend wieder.«
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Du hast Ferien, Kelda.«
»Ich mag aber nicht grübeln.«
»Na gut. Fahr zum Men Marz, der wird dir gefallen!«
»Sollte ich den Herren kennen?«
»Er ist
Weitere Kostenlose Bücher