Schiffbruch und Glücksfall
Altarkerzen, und der Priester erschien.
Wie erwartet begann er die Messe mit den Worten: ›Introibo ad altare Dei …‹
Der Seeman nahm all seinen Mut zusammen und antwortete: ›Ad Deum qui laetificat juventutem meam.‹ Die Messe nahm ihren Lauf, und als sie beendet war, bedankte sich der Priester bei dem Seemann. Er erklärte ihm sogar, er sei eine Seele aus dem Fegefeuer, wegen seiner Sündendazu verdammt, jedes Mal an seinem Todestag die Messe in der Chapelle Pol so lange zu lesen, bis ihm jemand antwortete.«
»Sehr schön, dann brauchen wir uns vor dem geheimnisvollen Priester ja jetzt nicht zu fürchten.«
»Er ist erlöst, was Xavier bedauert.«
»Warum?«
»Er hätte sich gerne mit dem Mann unterhalten.«
»Ist Xavier ein Geisterseher?«
Simon lächelte. »Ich weiß es nicht. Er spinnt ein bisschen, aber er ist harmlos. Er ist sehr erdverbunden, sein Haus hat keinen Stromanschluss, Telefone meidet er, er kann das Wetter mit einer Präzision vorhersagen, die jeden Meteorologen blass werden lässt, und er behauptet, dass es Häuser gibt, in denen Korrigane ihr Unwesen treiben.«
»Ich habe von Korriganen zwar auch schon gehört und natürlich diese kitschigen Postkarten bewundert – haben diese Geschöpfe Ähnlichkeit mit den Abbildungen? Was sagt er dazu?«
»Frag ihn am besten selbst, es wird ihm eine riesige Freude machen, wenn du dich ernsthaft dafür interessierst.«
»Und wie sieht es mit dir aus? Du bist doch oft in alten Häusern beschäftigt?«
Keldas Ton klang ein bisschen spöttisch, aber Simon antwortete ruhig: »Es mag dir verrückt vorkommen, Kelda, aber es gibt Gebäude, in denen etwas nicht so ist, wie es sein sollte. Manchmal spüre ich ein Schaudern, eine Kälte oder auch – Wärme und Lachen.«
»Dieses Land hat eine seltsame Ausstrahlung, das ist mir auch schon aufgefallen. Vielleicht wird man hier offener für solche Wahrnehmungen. Betrachten wir also mit gebührender Achtung diese hübsche kleine Kapelle.«
Es freute ihn, dass der Spott aus ihrer Stimme verschwundenwar. Sie lehnten sich zurück und ließen eine Weile die Ruhe in der Kapelle auf sich wirken.
Irgendwann fragte Kelda ihn leise: »Und, spürst du hier die Geister der Schiffbrüchigen?«
»Nein, das wird man hier nicht können. Bedenke, man hat Messen für ihr Seelenheil gelesen.«
Kelda stand auf und ging zur Tür der Kapelle. Sie war abgeschlossen. Doch sie drehte sich um und sagte: »Simon, wenn hier wirklich Messen gelesen wurden, könnte es in der zugehörigen Pfarrei vielleicht Aufzeichnungen dazu geben. Vor allem zu einem Schiffbruch, bei dem Vater und Sohn umgekommen sind.«
»Wenn die so lange zurückreichen und nicht verkramt oder vernichtet wurden.«
Auch Simon erhob sich von der schattigen Bank, und sie traten wieder in den leuchtenden Sonnenschein, nachdenklich schweigend. Simon musste zugeben, dass Kelda einen guten Ansatz gefunden hatte, den er noch nicht berücksichtigt hatte. Sie erreichten wieder den Küstenpfad, als sie sagte: »Auch nach Gräbern könnte man suchen.«
»Du entwickelst ja richtig detektivischen Spürsinn, Kelda.«
»Ich hab ja sonst nichts zu tun.«
»Du könntest dich dort vergnügen.« Simon wies auf den weiten Strand. Über dem Meer tanzten die bunten Drachen der Kiteboarder fröhlich im Wind. Segel blinkten, nachmittägliches Strandleben breitete sich auf dem größer werdenden Sandstreifen aus. Auf dem Watt kratzten eifrig Menschen im Sand, um Muscheln zu sammeln – ein hiesiger Volkssport: Pêche à pied.
»Könnte ich. Aber Strandleben habe ich in meinen vorherigen Urlauben zur Genüge genossen. Diesmal habe ich keine Lust, Matt und seiner Clique über den Weg zu laufen. Hast du was dagegen, wenn ich mich ein bisschen um deinen Großvater kümmere, Simon?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich habe die Nachforschungen in der letzten Zeit nur noch halbherzig durchgeführt. Deine Ideen sind weit kreativer als meine. Ich werde mich morgen mal mit dem hiesigen Pfarrer unterhalten, ob er etwas zu den Messen in der Kapelle weiß.«
»Und ich meine alten Freunde in der Crêperie nach den Gräbern der Schiffbrüchigen fragen. Die Jungs haben sicher keine Beerdigung ausgelassen.«
Sie hatten das
Marée bleue
beinahe erreicht, als Simons Handy klingelte. Verärgert nahm er den Anruf des Verwalters entgegen. Genau das hatte er befürchtet – es war ein Notfall in der Villa eingetreten, die er gerade zu renovieren begonnen hatte.
»Wasserschaden. Ich muss hin,
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