Schiffstagebuch
Kriminalität, Namen aus dem Gesellschaftsspiel eines Landes, das man nicht kennt, ein
Fliesenbild mit den Helden des Freiheitskampfes von 1825, alte Damen unter Platanen, schmale Straßen mit verblichenen Kolonialgebäuden und dazwischen ein
Stück Niemandsland, große Parks, ältere Herren mit Strohhüten und weißen Schuhen, und dann wieder plötzlich vor einem pompösen Bankgebäude mit mächtigen
Säulen ein Pferdefuhrwerk mit jemandem, der aus allen Mülltonnen die leeren Dosen fischt. Dies ist keine Stadt für nur einen Tag, hier muß man bleiben und
eine seltsame Geschichte schreiben, über den Trödelmarkt Mercado del Puerto, alte Instrumente, altersschwache Grammophone aus einer anderen Zeit, Hunderte
von Matebechern, kleinen Orchestern, die zwischen den Ständen umherlaufen, Großmutters letzte Gläser, einen Porzellanhund, ein Buch mit Nationalhelden,
Bolívars Lebensgeschichte, Staubschichten, Puder von früher. Die Reste einer alten Stadtmauer, die Kathedrale, dann wieder ein beängstigend hohes Gebäude
mit gläsernen Appartements, aus denen die Klimaanlagenwie rechteckige Pusteln hervorstehen, das klassische Teatro Solis mit dem Bild
Onettis obendrauf, ein Mann mit Stetson und einer Brille mit dicken Gläsern und schwerer schwarzer Fassung, jemand, der einen nicht ansieht. Das ist
gelogen, denn als ich 2005 dort stand, gab es dieses Foto noch nicht, ich habe es erst später gesehen, aber auf diesem Theater. Das Foto gehörte zu einem
Text des Schriftstellers Juan Cruz in El País . Er erzählt darin, wie er irgendwo in Montevideo ein verstaubtes Café betritt, dem er keinen Namen
gibt. Vielleicht habe ich es heute ebenfalls besucht. Ein Mann ist dabei, sehr langsam Gläser zu spülen, und sagt, ohne aufzublicken: »Wir haben
geschlossen.« Seit wann, fragt Cruz. »Seit hundert Jahren«, lautet die Antwort, und damit hat man gleich eine ganze Stadt gesehen.
Montevideo, Uruguay
In einer Buchhandlung frage ich, wo Onetti begraben ist. »Auf dem Cimenterio Central.« Ich hätte wissen können, daß das nicht stimmt, denn Onetti ist in Madrid gestorben. Aber weil man sich nie ganz sicher ist, bin ich trotzdem hingegangen, und binnen fünf Minuten war ich im neunzehnten Jahrhundert: Standbilder in den steinernen Kleidern Balzacs und Flauberts, trauernde Witwer am ebenfalls steinernen Leichnam ihrer Frau, ein Mitra tragender Bischof auf einem erhöhten Lustbett, die marmorne Fläche des Grabes von Luis Battle Berres, 1897-1964, der ein mächtiger Mann gewesen sein muß, liegt er doch mit den Füßen zu dem Gitterzaun, der den Friedhof vom Fluß trennt. Zu diesem Grab gehört eine Gruft, in Sachen Tod ist man in dieser Gegend der Welt nicht gerade bescheiden, sondern bringt richtige Immobilien ins Spiel, Kapellen, halbe Paläste, Krypten. Ich lasse meinen Blick eine Weile über den Fluß wandern, ob ich nicht doch irgendwoan dem breiten Wasser Onettis ersonnene Stadt mit all ihren Intrigen und grausamen Geheimnissen finden kann. Vom Friedhof aus betrachtet ist der Fluß ein Meer, ich sehe das jenseitige Ufer nicht, obwohl es existiert, und das macht diesen Fluß zu einem Totenfluß. Auf der gegenüberliegenden Seite stiegen in den Jahren der Diktatur zwischen 1976 und 1983 die Flugzeuge auf, die politische Gefangene, die man zuvor gefoltert und betäubt hatte, über dem breiten Wasser, auf das ich jetzt blicke, hinauswarfen, Männer, Frauen, manchmal auch Kinder. Eines dieser Kinder war ein vierzehnjähriger Junge, Floreal Avellaneda, auch el Negrito genannt. Sein großes Verbrechen: Mitglied des Kommunistischen Jugendbundes. Am Morgen des 15. April 1976, wenige Wochen nach dem Staatsstreich, drangen maskierte Soldaten in sein Haus ein. Sie suchten nicht ihn, sondern seinen Vater, einen kommunistischen Textilarbeiter. Der Vater war nicht da, also nahmen sie den Sohn und die Mutter mit sowie alles im Haus befindliche Geld. Beide wurden ins Kommissariat in der Villa Martelli gebracht und gefoltert. Die Mutter, die als einzige überlebt hat, hörte ihr Kind in einem anderen Raum schreien. Danach wurde der Junge ins Konzentrationslager El Campito gebracht. Am 14. Mai, dem Tag, an dem er fünfzehn geworden wäre, wurde seine Leiche gefunden, angespült an der Küste Uruguays.
Erst in dem Jahr, in dem ich dies schreibe, 2009, findet der Prozeß gegen eine Reihe hoher Offiziere statt, die in diesen Fall verwickelt waren. Unter
der Regierung von Néstor Kirchner wurden die Gesetze, die
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