Schiffstagebuch
eine umgekehrte Welt ist, kam es mir vor, als bewegte ich mich nach Norden, die Pampas von Santa Cruz, die Steppen Patagoniens mit den wild aussehenden banderas , Bäumen, denen der Wind derart zusetzt, daß ihre Krone wie eine Fahne in eine einzige Richtung weht, über das letzte Stück der berüchtigten Ruta 40 bis zur schlampigen, verregneten Endstation Río Gallegos mit seinem Museo de los Pioneros, frontier town , Grenzgebiet. Dort läßt man die Straße Straße sein und fährt auf einer Wagenspur zum Leuchtturm von Cabo de las Vírgenes am äußersten Ende der Magellanstraße. Hier schläft man in einem der kleinen Holzhäuser der Estancia Monte Dinero, ißt am Leuchtturm und schaut mit dem Fernglas zum anderen, fernen Kap auf Feuerland hinüber, dem Cabo de Espírito Santo, in diesen Gegenden ist die Kirche von Rom stets sehr nah. Und dann kann man wieder mal nicht widerstehen und fährt noch einmal nach Ushuaia. Die von der Geschichte gezogene Linie verläuft schnurgerade durch das Land auf der anderen Seite, doch nach Chile kommt man nur auf einem Umweg und nach Ushuaia kann man mit der Fähre. Aber dann ist es genug, ich tausche den Süden gegen den Norden, der wie ein Süden aussehen wird, und fliege die 4459 Kilometer ins koloniale, tropische Salta, die Stadt dieses kleinen goldenen Kerlchens.
Es muß Jesus sein, in ein Gewand aus Goldbrokat gehüllt,mollig, kirschrote, sinnliche Lippen, ungefähr drei Jahre alt, dicke, glänzende Wangen, ein Spitzenkragen, nackte Füße, aber dennoch eine edelsteinbesetzte Krone und große blaue Augen, die einen nicht ansehen, ein ängstliches Gesicht, gerade etwas Unheimliches geträumt. Er muß in einer Kirche gestanden haben, Simone hat ihn unter seinem Baldachin fotografiert. Der Schrei nach Gerechtigkeit muß ganz in der Nähe gewesen sein. In einer Nische an die Wand gepinselt mit diesen schwarzen, ungelenken Buchstaben, die Wut verraten. ESTA ES LA JUSTICIA, ruft die Mauer. »Das ist Gerechtigkeit«, und so ein Satz meint mit der Kraft der Rhetorik natürlich genau das Gegenteil. Daß Menem, der frühere Präsident, der immer ein wenig aussah wie eine Schnecke in einem Siruptopf, klein, glatt, eine Spur zu braun, FREI ist, die Arbeiter von Caleta Olivia aber im Gefängnis sind, der Mörder frei und über 4000 Kämpfern der Prozeß gemacht wird. Warum glaube ich, daß sie recht haben? Habe ich dafür auch nur einen Beweis? Nein, es sind die abgeblätterte Mauer in der tristen Straße, das Papierknäuel im Rinnstein, die albern gezeichnete Waage, die am T von justicia hängt, genau zwischen JUS und ICIA, der schmutzige Gehweg mit den ungleichen Steinplatten und die traurigen Telefonkabel an der Hauswand, die dem Schrei recht geben.
Salta – einer, der hier wohnt, woher stammt der? Aus Salta natürlich, aber vor allem aus der Geschichte dieses Landes. Ein Inkareich, das von Peru bis in diese Region reichte, aber keine Denkmäler hinterlassen hat. Dies war die ferne Peripherie, hier lebten die Indianer, wie sie Jahrtausende lang gelebt hatten und wie die ersten Spanier sie im sechzehnten Jahrhundert auf ihrer gefräßigen Suche nach Gold und Silber antrafen. Diese waren sich ihrer Sacheso sicher, daß sie das Land, das noch kein Land war, schon mal Argentinia nannten, Silberland. Kolonial wirkt es, noch immer. Ihr Blut vermischte sich mit dem der Einwohner, ihr Glaube und ihr absolutistisches System sind nach wie vor sichtbar: die Kathedrale, das cabildo , von dem aus regiert wurde, die Standbilder der spanischen Gründer und Eroberer, die strenge Schachbrettgliederung der Städte, wenn man über Salta oder Jujuy fliegt, sieht man das koloniale Gittermuster; die schnurgeraden Straßen sind nach geschichtsträchtigen Daten oder Helden benannt, wie San Martín oder Bolívar, die die Kolonien aus dem Griff Spaniens befreiten, Sarmiento oder Mitre, die sie von der Diktatur Rosas‘ befreiten, tragen aber nicht den Namen des »Gauchos« Rosas selbst, jenes grauenhaften Caudillos, der im neunzehnten Jahrhundert eine zwanzigjährige Schreckensherrschaft ausübte, deren Schatten sich nie ganz gelichtet haben. Es scheint, als existiere kein Mittelweg zwischen Freiheit einerseits und Unrecht und Ungleichheit andererseits. Gibt es etwas im spanischen Charakter, weswegen ein ganzer Kontinent jahrhundertelang für ein bißchen Demokratie kämpfen mußte, und wieviel hat das mit dem Katholizismus zu tun? Rosas, Perón, das blutige Regime Pinochets in Chile, und bis vor
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