Schiffstagebuch
andere Gäste sind im Haus, ein Biologe aus Kanada und eine australische Wildlife-Fotografin. Am nächsten Morgen werden wir die Seelöwen besuchen. Auf dem Gebiet der Estancia leben fast dreihundert Männchen, siebenhundert Weibchen und über tausend Junge. Wir fahren mit dem Landrover hin. Zuerst dürfen wir uns noch aufrecht bewegen, danach nur noch auf Händen und Füßen, und das letzte Stück bis zur Herde müssen wir robben, eine aufgerichtete Gestalt gilt als Aggression. In der Ferne sehen wir die Herde, schwarz und braun, Juan erzählt von lobos de un pelo und lobos de dos pelos , Seelöwen mit einer Haut und solchen mit zwei Häuten samt den damit verbundenen Vor- und Nachteilen, doch dann wird aus seinem Sprechen Flüstern, und so leise wie möglich schieben wir uns gleich ungelenken Reptilien über die rauhen Steine am Strand. Wir rücken in Etappen vor,jedesmal, wenn Juan die Hand bewegt, kriechen wir ein Stück weiter, bis wir uns mitten in der Herde befinden. Die großen Tiere achten nicht auf uns, wir sind unsichtbar. Dann robben die ersten Jungen auf diesen merkwürdigen umgeknickten Pfoten auf uns zu. Große, gleichmäßig dunkelblaue Augen in Embryoköpfen, ein Knopf als Ohr, aliens . Sie kommen ganz nah heran, schnuppern an uns und stellen fest, daß wir nicht Teil ihrer Schöpfung sind. Ein Anflug von Abscheu, von Schreck in diesen behaarten Masken, dann rutschen sie wieder weg von uns. Die erwachsenen Tiere kommen nicht so nah, tun aber so, als stellten wir überhaupt nichts dar oder wären gar nicht da, genauso wie Japaner in der U-Bahn von Tokio, die es immer schaffen, durch einen hindurch oder an einem vorbei zu schauen, man existiert einfach nicht. Und wie zum Beweis beschließt einer dieser gewaltigen Löwen diejenige Haremsdame, die ihm am nächsten ist, zu besteigen. Er wiegt Juan zufolge mindestens vierhundert Kilo, hat sich hoch aufgerichtet und bewegt dieses enorme Gewicht vor und zurück im bekannten Rhythmus. Die Haare seines Pelzes sind rotbraun, sie, die unter ihm Liegende, ist viel heller und wiegt ein paar hundert Kilo weniger. Sie ist eindeutig auch wesentlich jünger und muß Schauunterricht in Japan genossen haben, denn sie blickt während der langen Prozedur an uns vorbei oder durch uns hindurch, genausogut könnte eine Möwe auf ihrem Kopf sitzen, falls sie etwas spürt an Genuß oder Schmerz, ist das jedenfalls nicht zu erkennen. Von Zeit zu Zeit hebt er sein mächtiges Haupt und läßt mit seinem Brüllen die Erde erzittern. Ich bin inzwischen vollkommen steif, höre das Klicken der Kameras der beiden Fotografinnen, und wegen des voyeuristischen Elements muß ich an die Schildkröten in meinemGarten in Spanien denken, bei denen das Männchen kleiner ist als das Weibchen, das immer wieder losläuft, so daß er jedesmal herunterfällt, bis er sie oder sie ihn, das ist nicht eindeutig auszumachen, in eine Ecke manövriert hat – der Auftakt zur letzten Arie der Oper. Hier vermag ich den Kopf nicht länger hochzuhalten, ich liege mit Mund und Augen in den keineswegs sanften Kieselsteinen, lange nicht der Erde so nah gewesen. Und als wäre das noch nicht genug, führt uns Juan danach zu einem anderen Teil seines riesigen Geländes, dorthin, wo die See-Elefanten leben. Dort muß alles mit zehn multipliziert werden, die Männer wiegen nicht vierhundert, sondern viertausend Kilo, und man sieht, warum sie Elefanten genannt werden: An den mächtigen Köpfen sitzt eine Art atrophierter Rüssel, und mich überkommt geziemende Demut, als wäre es nicht recht, daß man mit seinen kleinen Ausmaßen einfach unter diese Familie schlüpft. Ich bin froh, daß ich danach als Gulliver inmitten eines Volks von fünfzigtausend Pinguinen umherstaksen darf, eines Volks, das sich ernsthaft mit sich selbst beschäftigt, das aber wenigstens auf Höhe meiner Knie tut. Ob es nun von der merkwürdigen Haltung kommt, die sie Staatssekretären oder emeritierten Bischöfen ähnlich sehen läßt, jedenfalls wird mir plötzlich bewußt, daß der Zufall der Evolution mir auch ein Dasein als Pinguin hätte zuweisen können, oder umgekehrt, daß ich hier mit fünfzigtausend anderen Homonoiden leben könnte und ein paar Riesenpinguine kämen, um uns zu studieren.
9
Ein Schrei nach Gerechtigkeit und ein sehr kleines goldenes Kerlchen. Manchmal definiert ein offenkundiger Gegensatz den Ort, an dem man sich gerade befindet. Nach der Península de Valdés bin ich noch weiter nach Süden gefahren, doch weil dies
Weitere Kostenlose Bücher