Schiffstagebuch
Militärangehörige auf Lebenszeit vor Strafverfolgung schützen sollten ( las leyes del
perdón ), vom Verfassungsgericht endlich für ungültig erklärt. Im ersten Prozeß steht General Santiago Riverosvor Gericht, 86 Jahre alt, ehemaliger
Befehlshaber der argentinischen Armee in der Zone IV. Die Anklage lautet auf gesetzwidrige Gefangennahme, Folterung und Mord an dem vierzehnjährigen
Jungen, und er bekommt lebenslänglich. Die Autopsie hat ergeben, daß der Junge durch apalanciamiento zu Tode kam. Mein Wörterbuch führt das nicht
auf, aber die Zeitung ist hilfreich. Die Mörder haben eine estaca , einen Pfahl, durch seinen Körper gebohrt. Auf den Schildern der Demonstranten
vor dem Gerichtsgebäude sehe ich das Foto dieses Jungen. Glänzendes schwarzes Haar, gescheitelt, weißes Hemd, breite schwarze Krawatte. Er lebt, behaupten
die Schilder. Aber das ist es ja gerade, er lebt nicht mehr. Der General dagegen schon, und auch von ihm gibt es ein Foto. Angehöriger der besseren Kreise
Argentiniens, erkahlend, zurückgekämmtes silberweißes Haar, gestreiftes Hemd, locker umgebundenes Halstuch, grauer Pullover aus Wolle oder Kaschmir,
darüber ein Jackett mit silbernen Knöpfen, einer der Herren, wie man sie auch in Madrid in vornehmen Cafés sieht.
Montevideo, Cimenterio Central
Meine Schiffsreise ist zu Ende. Im Dämmerlicht fahren wir über das totenstille Wasser und sehen Montevideo hinter uns verschwinden, bis auch die letzten Lichter versunken sind. Ein letzter Abend im Alten Fritz, ein Himbeergeist, noch einer, Abschied von Tänzerinnen und Zauberkünstlern, und dann das erste Morgenlicht in Borges‘ Stadt. Städte gehören hier den Schriftstellern. Ich bin von Neruda zu Onetti gefahren und von Onetti zu Borges und Gombrowicz, zu Ocampo und Bioy Casares und allen Dichtern dazwischen.
8
Reise ist Bewegung. Ich bin nicht in Buenos Aires geblieben, sondern nach Puerto Madryn zurückgeflogen. Nach den Wochen auf See war
mir das Getriebe der Welt zuviel, Tangos, der letzte Bergman-Film mit spanischen Untertiteln, Freunde, der Jockeyclub mit seiner unglaublichen Bibliothek
von Argentiniana, die Boulevards eines Landes in der Krise, das Auf und Ab des Peso, die Rutschbahn der Börse und die cartoneros , die mit ihren
Karren nachts umherziehen und überall Altpapier suchen, um es zu verkaufen, ihre letzte Einkommensquelle. Der Markt von San Telmo mit alten Ausgaben von Sur , der Zeitschrift Borges‘ und Ocampos, die ich natürlich nicht liegenlassen kann, die eigene Welt irgendwo anders, Europa im Südland – doch
dafür bin ich nicht hergekommen, und so bin ich einen Tag später vom Flughafen in Madryn unterwegs zur Península de Valdés. Jemand hatte mir die Adresse
der Estancia La Ernestina am Ende der Halbinsel gegeben. Ich rief an, sie hatten Platz. Man fährt zunächst ungefähr neunzig Kilometer nach Puerto
Pirámides und danach weitere fünfundsiebzig nach Punta Norte, wo die Estancia liegt. Die Straße ist eine breite Spur aus rötlichem Splitt voll harter
Riffel, das Land leer, Erde, coirón , strandhaferartiges Gras, merkwürdige kugelförmige Strauchpflanzen namens neneo , dann und wann ein
verdutztes Guanako oder ein choique , ein straußenähnlicher Zweibeiner, der rasend schnell laufen kann. Kaum entgegenkommende Fahrzeuge, große
Staubwolken, die man aus der Ferne wie einen Ball heranrollen sieht. Es ist eine starke Landschaft, die immer trockener wird, je näher wir dem Ozean
kommen. Die Estancia ist flach, davor steht ein LandroverDefender mit Orca 1 auf dem Nummernschild, so daß man gleich weiß, woran man
ist. Juan, der Eigentümer, ist ein leidenschaftlicher Verteidiger dieses vom Untergang bedrohten, gefährlichsten aller Wale. Es sind gnadenlose Raubtiere,
die ihre Beute im Herdenverband jagen. Später sehe ich in einem Film, wie sie ein Walkalb von der Herde trennen, auf die Seite treiben, alle gemeinsam
angreifen, das Meer rot von Blut. Hierher kommen sie in der Jahreszeit, in der die Seelöwen Junge haben. Dann stranden sie buchstäblich, packen ihre Beute
und warten, bis die Flut kommt und sie wieder ins Meer geschwemmt werden. Juan erzählt, daß er manchmal mit ihnen schwimmt, er kennt sie, und sie kennen
ihn.
Península de Valdés, Argentinien
Sechs Zimmer hat die Estancia, abends um halb elf wird der Generator ausgeschaltet. Tiefste atlantische Stille, ein kleines bläuliches Notlicht, bei dem man nicht mehr lesen kann. Zwei
Weitere Kostenlose Bücher