Schiffstagebuch
sich selbst erschießen kann, ich weiß, wie nah ich dieser Welt bin und wie fern zugleich. Am nächsten Abend, im Hotel in Longyearbyen, wird sich dieses Gefühl noch verstärken. Man sitzt an einem Tisch bei einem Glas Wein und weiß, daß man nur noch etwas mehr als tausend Kilometer vom Pol entfernt ist – für ein paar tausend Dollar kann man mit einem alten russischen Hubschrauber hinfliegen –, und einen frivolen Augenblick lang lassen sich dann all die Geschichten, die man gehört oder gelesen hat, nicht mehr mit dem Luxus und der Sicherheit in Einklang bringen, die einen umgeben. Willem Barents, die Überwinterung auf Nowaja Semlja, Amundsen, Nansen, Scott, die Geschichten von Skorbut und Hungertod, die einsamen Gräber überall auf diesem Archipel.In seinem Buch Die Schrecken des Eises und der Finsternis gibt Christoph Ransmayr eine grauenhafte Beschreibung der heroischen Expedition von Julius Payer und Carl Weyprecht 1872-1874, die mit ihrem Schiff Admiral Tegetthoff im Eis eingeschlossen wurden und ihre Boote zu Fuß über das unwegsame Packeis zurückschleppen mußten, bis sie endlich offenes Gewässer erreichten und von einem russischen Walfänger gerettet wurden. Das einzige, was heute noch schwach daran erinnert, ist die Aufforderung, nicht allein und schon gar nicht unbewaffnet in die Hügel rings um das Städtchen zu gehen, denn die hier lebenden Bären haben oft Hunger, und wenn es sein muß, fressen sie auch Menschen. Wer selbst keine Waffe hat, muß sich einen bewaffneten Begleiter suchen.
Den ersten Blick auf Spitzbergen werfe ich aus der Luft, und ich sehe, was Barents sah: spitze Berge. In einem englischen Buch ( No Man‘s Land von Sir Martin Conway, 1906, Faksimile-Ausgabe Oslo, 1995) lese ich eine Schilderung jener frühen Tage. Zwei Schiffe waren am 18. Mai 1596 von der westfriesischen Insel Vlieland ausgelaufen, auf dem einen Willem Barents und Jacob van Heemskerk, auf dem anderen Jan Cornelisz. Rijp. Am 9. Juni erreichten sie »Bear Island«. Acht Mann von jedem Schiff gingen in zwei Schaluppen an Land. Sie fanden eine Unzahl von Möweneiern an der Küste, doch beim Abstieg von einem hohen Schneehügel weiter landeinwärts brachen sie sich wegen des steilen Gefälles und einer Reihe gefährlicher Felsen fast das Genick, so daß sie es vorzogen, auf dem Hintern hinunterzurutschen. Drei Tage später sahen sie einen »weißen Bären«, den sie fangen wollten, doch das Tier war so groß, daß sie es nicht wagten. Sie rudertenzum Schiff zurück und bewaffneten sich mit Musketen, Hellebarden und Beilen. Vier Glasen (zwei Stunden) lang kämpften sie mit dem Bären, der mit einem Beil im Rücken davonschwamm, schließlich aber doch erlegt wurde. Die Männer aßen von seinem Fleisch, das ihnen aber nicht bekam. Dabei hatten sie noch Glück, eine ganze Reihe Polarreisender ist nach dem Genuß von Eisbärenfleisch gestorben, vor allem die Leber kann giftig sein. Sie nannten die Insel Beeren Eylandt (heute Bjørnøya) und fuhren am 13. Juni weiter in Richtung Norden. Am nächsten Mittag erblickten sie Land – sie befanden sich wahrscheinlich noch weit auf See, auf 78˚ 15´ nördlicher Breite – westlich dessen, was sie den Grooten Inwyck nannten, den heutigen Isfjorden.
Am 16. Juni stoßen sie auf Packeis und fahren in östlicher Richtung weiter, bis sie auf 80˚ 10´ »hohes Land, völlig mit Schnee
bedeckt« sehen, die Nordküste Spitzbergens. Eine Woche lang kreuzen sie vor der Insel und gehen dann vor Anker, das Land, so schildern sie es später, ist
»gebrochen und besteht ausschließlich aus Bergen und spitzen Hügeln, weshalb wir es Spitzbergen nannten«. Es war ihnen nicht klar, daß sie eine neue Insel
entdeckt hatten, da sie dachten, sie befänden sich auf Grönland; sie fuhren aber zum Glück unbekümmert damit fort, allem einen Namen zu geben. Man kann
wegen des Eises nicht weiterfahren, kehrt um und nennt dieses Binnengewässer Keerwyck (Wendebereich); oder man findet die mächtigen Zähne eines Walrosses,
tauft die Bucht Tandenbaai (Zahnbucht) und nimmt das Land dann auch gleich offiziell in Besitz, indem man einen Bericht von seinem Besuch zurückläßt. Der
Rest ist Geschichte. Rijp und Barents trennen sich, Barents wird vom Eis auf Nowaja Semlja eingeschlossen, überwintert mit seiner
Mannschaft in der Finsternis der eisigen Einsamkeit in einer aus Treibholz selbstgebauten großen Hütte und versucht, wie knapp drei Jahrhunderte später
die Besatzung der
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