Schiffstagebuch
Admiral Tegetthoff , im Frühjahr 1597 die offene See zu erreichen, stirbt aber am 20. Juni unterwegs an Skorbut. Die anderen
gelangen nach einer grauenhaften Fahrt endlich in offenes Gewässer und werden dort von zwei russischen Schiffen geborgen. Nicht lange danach finden sie
Skorbutgras, wodurch sie teilweise wieder genesen, und fahren dann in direkter Linie übers Meer zur Mündung des Petschora, wo sie am 4. August
eintreffen. Einen Monat später stoßen sie bei Kola im Weißen Meer auf das Schiff von Jan Cornelisz. Rijp, von dem sie vor über einem Jahr Abschied
genommen hatten. Fast dreihundert Jahre später findet Kapitän Elling Carlsen aus Hammerfest die Überreste von Barents‘ Hütte, 16 Meter lang, 10 Meter
breit. Er sammelt verschiedene Gegenstände ein, die während dieser ganzen Zeit im Eis überdauert haben. Zusammen mit weiteren 112 Überbleibseln von einer anderen Expedition liegen sie nun im Rijksmuseum von Amsterdam.
Es ist Abend in Longyearbyen. Ich habe meinen Gang durch die schmale Stadt gemacht. Stadt ist vielleicht ein zu großes Wort, Siedlung
wäre angebrachter. Auch hier gibt es ein Polarmuseum, moderne, gewagte Architektur. Alles, was ich gerade gelesen habe, wird durch die Abbildungen und
Fundstücke noch dramatischer. Danach möchte ich noch einen kleinen Spaziergang am Wasser entlang machen. Ich habe das Museum hinter mir gelassen, nun hat
mein Laienverstand alles mögliche zu verarbeiten. Die Straße ist zu dieser späten Stunde leer und düster, in der Ferne sind ein paar Häuser zu erkennen,
das Wasser links von mir ist ein Binnengewässer, das umliegende Land rostbraun, die Hügel in der Ferne grauer Stein, im oberen Teil
schneebedeckt. Spitzbergen ist größer als die Niederlande und Belgien zusammen, doch in allen Siedlungen der Inselgruppewohnen
insgesamt keine 3500 Menschen. Ich versuche mir zu vergegenwärtigen, was ich gerade gelesen habe: Im Mesozoikum, vor 250 Millionen Jahren, lag Spitzbergen
dort, wo heute Spanien liegt, es driftete auf den sich verschiebenden tektonischen Platten in Richtung Norden; obwohl mir das schon sonderbar vorkommt,
kann ich mich staunend weiter in Zahlen und Entfernungen verlieren, denn noch weiter zurück lag der Archipel, der heute zu 60 Prozent aus Eis besteht,
sogar südlich des Äquators. Die Welt, so scheint es, hat damals in einem fort gebrodelt und ist dabei manchmal übergekocht, Bergrücken schmolzen,
Felswände wurden zusammengefaltet, Gesteinsarten miteinander vermengt, flüssiges Magma strömte an die Oberfläche und erstarrte zu Granit – eine lange,
wütende Märchenerzählung, in der Steine zu langen Bändern gedehnt werden, Sümpfe sich mitsamt ihrer Vegetation in eine Kohleschicht verwandeln,
Dinosaurier erscheinen und wieder verschwinden und sich auf dem Boden des Kochtopfs Fossilien ablagern, die nach seiner Erkaltung von einem Leben
berichten, in dem die Natur noch ohne uns auskam. Es wird neblig, die Straße, vei 400 , fährt nach Adventdalen, aber so weit werde ich nicht
gehen. In der Dämmerung sehe ich ein fernes Licht und beschließe, noch bis dorthin zu spazieren; als ich näher gekommen bin, stelle ich fest, daß es ein
eingezäuntes Gelände mit vielen kleinen Holzhütten ist, in denen Polarhunde wohnen und auf den Winter warten. Sie liegen an Ketten, strecken den Kopf aus
der Fensteröffnung ihrer Hütte. Auf mich sind sie nicht neugierig, schauen mit diesen merkwürdig leuchtenden Augen durch mich hindurch, für sie bin ich
ein Niemand, denn ich hole sie nicht für eine Fahrt zum Nordpol. Alles, was man über Tiere sagt, ist reine Interpretation,und es ist
wahrscheinlich auch Unsinn, wenn ich sage, sie sind schön, doch über diesem Ort liegt eine unbenennbare Melancholie und auch eine Ablehnung, als müßte
man, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, einer anderen Ordnung angehören, besser zur Landschaft passen; ich dagegen bin ein in keiner Gefahr erprobter
Spaziergänger, gewogen und für zu leicht befunden.
Auch am nächsten Morgen spüre ich das, als ich über den Sjoomradet in die andere Richtung gehe, zum Industriegelände und dem kleinen
Hafen im Adventfjorden, von wo aus wir einen Tag später mit dem Schiff zu einer aufgegebenen russischen Bergarbeitersiedlung namens Pyramiden fahren
werden. Die modernen Nutzbauten zeichnen sich klar gegen die markante Umgebung ab, fröhliche Farben, gerade Linien, die Schiffe in der Werft totenstill im
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