Schiffstagebuch
Hintergrund, darüber zweimal die Gesetzestafeln und darüber wiederum eine Krone zwischen zwei Davidssternen, flankiert von goldenen Löwen. Ich lerne, daß der Vogel Strauß in der Heraldik für Schnelligkeit und Ausdauer steht und daß in der Bildersprache der Wappenkunde ein Pferdehuf im Schnabel eines Straußes Geringschätzung für die Kraft des Pferdes ausdrücken soll. Nubische Prinzen erwiesen einem Minister Tutanchamuns die Ehre mit einem Federbusch,auf dem »königlichen Friedhof von Irland wurden verzierte Straußeneier von 2600 vor Christus« gefunden, doch ob das stimmt, weiß ich nicht. Prinz Arthur, Thomas und Henry of Bolingbroke, assyrische Könige, der bei der Krönung Edwards VII. von einem südafrikanischen Würdenträger getragene Federbusch, hier wurde nichts dem Zufall überlassen, Nancy, das Springbockweibchen, als Maskottchen des Regiments, das im Ersten Weltkrieg ein Horn verloren hat, und das Foto von Arthur Jacobson, der 1893 nach Oudtshoorn gekommen war, 1903 Friedensrichter wurde und 1914 als erster zum Judentum konvertierte, damit er zum Bürgermeister gewählt wurde: Namen, Gesichter, Geschichten. Als ich das Museum verlasse, habe ich mindestens dreißig Bücher gelesen, und dann kommt noch eines hinzu. Der erste Satz lautet Iziko Iezoluleko Iwabafanzi ethsolweni , das Oudtshoorn female correctional centre , mit getrennten Besuchszeiten für verurteilte und noch nicht verurteilte Bewohnerinnen, die hinter dem freundlichen blauen Zaun wohnen, hinter den glänzend weiß gestrichenen, geschlossenen Fensterläden und den üppigen grünen Zimmerpflanzen vor der hellroten Freitreppe. Doch drinnen wartet niemand auf mich. Ich schaue durch die halb geöffnete Eingangstür hinein, kein Mensch zu sehen.
X . Sehr früh war ich in Tunesien, Marokko, der Sahara. Später im Senegal, in Mali, Niger, Gambia. Jetzt auf Mauritius, Réunion und im äußersten Süden des Kontinents. Aber war ich wirklich in Afrika? Oder nur vorbeigeflogen? An den Rändern, den Umrissen? Heart of Darkness heißt das Afrika Joseph Conrads. Finsternis. Ich hingegen komme mir wie eine Motte vor, die auf das Licht zugeflogenist, ein dunkles Licht, der unmögliche Gegensatz, der lockt und zugleich angst macht. Die pulsierende, mächtige Mitte, das unaufhörliche Theater der Kriege, die Armut, der Reichtum, die Stämme, die Grausamkeit, das Erbe des Kolonialismus, die Namen. Angola, Darfur, Uganda, Kongo, Togo, Benin. Katanga, Taylor, N‘Krumah, Lumumba, Kabila, Mobutu, Mugabe, Annan.
Vielleicht war ich Afrika am nächsten, als ich die Märkte von Mopti und Bamako besuchte oder als ich auf der Lady Wright den Gambia aufwärts fuhr, eine andere Schiffsreise.
Daran denke ich auf dem Flughafen von Kapstadt. Irgendwo hängt eine Karte von Afrika, ich starre darauf und muß plötzlich an den vierten Akt von Onkel Wanja denken, der mit einer Regieanweisung beginnt: »Ein kleinerer Tisch für Astrow, darauf Zeichengeräte, Farben; daneben eine Mappe. Ein Käfig mit einem Star darin. An der Wand eine Afrikakarte, offenbar von niemandem benötigt« Später, als die Hoffnungslosigkeit der ganzen Gesellschaft – gescheiterte Karrieren, vergebliche Leben, hoffnungslose Liebe – mitleidslos dargestellt ist, kommt diese Karte kurz ins Spiel. Der Doktor ist verliebt in die eine, die er nicht bekommen kann, und hat der jungen Frau, die verzweifelt in ihn verliebt ist, gerade klargemacht, daß es keinen Sinn hat. Er geht zu der Karte von Afrika, betrachtet sie und sagt: »In diesem Afrika muß jetzt eine Hitze sein – schrecklich!«
Einst hat der alte russische Regisseur, der das Stück in der Nederlandse Comedie einstudierte, im vollen Americain diese Szene vorgespielt. Er tat es für mich allein, zwischen den Tischen des Cafés, ein unscheinbarer Satz, der eine enorme emotionale Wucht erhielt. Ich habe das nievergessen, und jetzt, während ich auf diese andere Karte des Kontinents blicke, über den ich in Kürze hinwegfliegen werde, höre ich die alte Stimme auf deutsch mit dem russischen Akzent wieder und weiß, daß ich noch immer nicht wirklich in Afrika war.
2005 / 2010
6
Im hohen Norden
Im Flugzeug von Oslo nach Tromsø. Zwei Welten, das Land tief unter mir, die Karte auf dem Schoß. Draußen geht die Sonne
gerade unter, die Wolken, die über dem Land auf meiner Karte hängen, sind von Max Ernst gemalt, surreale, aufgeblähte Luftgebilde, Geschwader, die an uns
vorbeischießen, Feuer in Grau, das Land unter uns
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