Schiffstagebuch
bereits dunkel, immer unsichtbarer, eine Ahnung. Auch wenn es rätselhaft ist, von Chaos kann dennoch
keine Rede sein, denn auf der Karte sind Straßen eingezeichnet, es gibt Orte, Häfen, Namen. Die dünnen grünen Linien sind Provinzgrenzen, die dickeren
geben an, wo in dieser Unermeßlichkeit das eine Land anfängt und das andere aufhört, Rußland, Finnland, Norwegen. Wir, eine kleine Gruppe schreibender
Reisender, sind eingeladen, eine Woche im hohen Norden zu verbringen. Ob unsere Reise mit der jüngst entstandenen Aufregung um den Pol und den von Rußland
erhobenen Ansprüchen zusammenhängt, weiß ich nicht, zumindest spricht niemand darüber. Wir werden Bibliotheken und Museen in den fernen nördlichen Städten
besichtigen, in die wir kommen, eine Universität, die Zentrale der Erdölindustrie, eine Fischverarbeitungsfabrik – ein wenig wie die Königin auf
Arbeitsbesuch. Unser erstes Reiseziel, Spitzbergen, liegt so weit im arktischen Norden, daß es nicht mehr auf der Karte ist, obwohl diese so groß und
detailliert ist, daß ich Mühe habe, die Namen der Orte zu finden, die sich in der kommenden Woche in Realität verwandeln werden, Tromsø, Hammerfest,
Kirkenes, weit voneinander entfernte Punkte in einer Unendlichkeit von Land, Buchten, Fjorden, Inseln, Seen. Wer die Verführung von Karten und die
Begierde, die sie auslösen, nicht kennt, wird sich meine Aufregung kaum vorstellen können – Tausende von Quadratkilometern ohne
Straßen, beige, hellgrün, dazwischen immer wieder das Blau des Meeres oder eines Binnengewässers, finnische oder norwegische Namen, die Berge und Ebenen
bezeichnen, oder Flüsse, an denen keine Siedlungen liegen, tatsächlich existierende geographische Orte, die ich nie zu Gesicht bekommen werde, die
Verlockung des Unmöglichen. Gabmaskaide, Doaresjokrassa, Kipperfjordfjellet, eine Kantilene faktischer Unerreichbarkeit und dennoch echt, kartiert,
vermessen, gezeichnet.
Die Wetterrubrik der Zeitung, die ich nicht lesen kann, zeigt Aquarelle von Wolken mit einer Sonne dahinter, später in dieser Woche wird die Temperatur in Tromsø tagsüber 2 bis 5 Grad betragen, in Longyearbyen, der Hauptstadt von Spitzbergen, 1 bis 4. Wir setzen zum Sinkflug an, von der Sonne bleibt noch ein wenig Tafelsilber, das dann aber auch verschwindet, die tiefer gelegene Wolkendecke ist fett geworden, wie ein riesiges Stück angeschimmelter Speck erstreckt sie sich bis zum Horizont, bevor wir sie in Regenschauern durchbrechen, plötzlich sind all diese Inseln auf der Karte Realität, ich sehe die Lichter und Hügel von Tromsø, eine Stunde später gehe ich durch verregnete Straßen, vorbei am gelbbraun gestrichenen Dom, an einem Lokal mit russischen Mädchen, an der steil aufragenden Eismeerkathedrale. Das Bild, das ich auf Fotos gesehen habe, grellbunte Holzhäuser an stahlblauem Wasser, wird gelöscht, plötzlich bin ich in einer flachen nördlichen Provinzstadt, die nach Meer und Ferne riecht. Von hier aus werden wir morgen nach Svalbard aufbrechen, wie die Norweger den Archipel nennen. Svalbard: Kalte Küste. Bevor es soweit ist, schaue ich noch in einem niedrigen rot gestrichenen Holzhaus am Wasser vorbei, dem Polarmuseet, eine harte Wirklichkeit reduziert auf Tableaux vivants, die in all ihrer Stümperhaftigkeit doch etwas von den extremen Bedingungen ausdrücken: ein erstarrter einsamer Fischer, zwischen Eisschollen rudernd; das monumentale Gerippe eines Walrosses und danebensein unvorstellbarer Penis; Amundsen, verkleidet mit einer danteartigen Kopfbedeckung, streckt das mächtige Haupt zur Tür hinaus, die Nase wie ein Eisbrecher. Vor den Holzbalken einer nachgebauten Hütte sitzt ein Seemann in Gestalt einer Puppe und rupft eine Schneegans, sein Gewehr und die Naturholzlatten, die seine Skier sind, stehen neben ihm. Bruder Bär, beängstigend groß, Schwester Fuchs, spitz und listig, fast täuschend lebendig, Tiere, ausgestopft wie Reliquien, der melancholische Kopf eines Seehunds, Fotos von Gletschern und im Schnee eingeschlossenen Hütten, von Walfängern und Schneestürmen, alles riecht nach Gefahr und Einsamkeit, Mensch und Tier im Kampf mit den Elementen und miteinander. Und in der Hauptrolle der Tod, ich habe genug Geschichten von Polfahrten gelesen, um mir den Rest zu denken. Aufgehängte Polarfüchse, dann hinter Glas ihre zarten Schädel, überraschend klein, mit den bösartigen Zähnen. In einem anderen Schaukasten die perfide Falle, mit der ein Eisbär
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