Schiffstagebuch
sehen, und hier verhält es sich nicht anders, auch wenn die Fronten nun
der Vergangenheit angehören. In der Verlassenheit rechts sehe ich die russischen Baracken, in denen die Grenzsoldaten gewohnt haben, etwas weiter entfernt
die hohen Wachtürme auf den Felsen. Links, auf norwegischer Seite, die Abhörstation der NATO, »die jedes Geräusch auffangen konnte«.
Es wird wohl Einbildung sein, doch noch immer liegt etwas von der Drohung jener Zeit in der Luft. Man stehtan der Stelle, an der der Fluß ins Meer mündet, blickt auf die jetzt harmlosen Gebäude und auf die unsichtbare Grenze, die damals für jeden, der über sie zu flüchten versuchte, den Tod bedeutete. Nicht weit davon entfernt steht eine frühere Warnung, die 1869 erbaute Kapelle König Oscars, ein trutziger Bau aus Gneis, ein Zeichen, dazu bestimmt, den russischen Nachbarn klarzumachen, wer hier der Herr war. Als wir näher kommen, halten gerade ein paar Autos für eine Sami-Hochzeit, Frauen in Tracht, Männer in schwarzen Anzügen, die eigentlichen Bewohner dieser Region, die früher umherziehen konnten, ohne sich um Grenzen zu kümmern, Menschen des äußersten Nordens. In meinem Notizbuch finde ich später die Verhaltensregeln des Grenzgebiets, die ich am Meer von einem Schild abgeschrieben habe. Nicht-Norwegern ist es verboten, im Pasvik zu angeln, und in dem Fluß, vor dem wir jetzt stehen, dem Jakobselv, dürfen nur Menschen angeln, die seit mindestens einem Jahr in Norwegen leben. Befahren werden darf der Fluß nur mit Kennzeichen, die von der norwegischen Grenzkommission vergeben werden, und nie nachts. Es ist verboten, die Grenze zu überschreiten, um Kontakt zu Leuten von drüben zu suchen oder ihnen in beleidigender Weise gegenüberzutreten. Es ist auch verboten, russische Militäranlagen, Material oder Personal zu fotografieren oder etwas über die Grenze zu werfen. Jeder Versuch dazu wird bestraft, als wäre es eine vollendete Tat. Es gibt schließlich Grenzen.
2008
7
Das Zeichen des Reisenden
Balinesische Notizen
Gibt es eine Archäologie der Bewegungen …? Ich werde nicht immer so intelligent wach, doch dieser Gedanke ist das Überbleibsel eines Halbtraums, aus dem nun langsam der Anlaß zu der Frage verschwindet. Wiegend verschwindet, sollte ich sagen, denn es handelt sich hier um einen schlanken, anmutigen Frauenarm, der sich nach einem flachen geflochtenen Korb hinaufstreckt, in dem hoch aufgetürmt Früchte auf tiefgrünen Palmblättern liegen. Bananen von einem tiefen Ocker, Orangen in der Farbe von Ringelblumen, alles in einer perfekten Geometrie, eine Komposition von höchster Ordnung, die die Vorstellung von Vollkommenheit erweckt, von einer Gesetzmäßigkeit, die sich nur durch ewige Wiederholung erzielen läßt. Ich möchte noch kurz bei diesem Traumbild verweilen und würde gern auch Kopf und Körper der Frau sehen, doch sie verschwindet mit langsamen, wiegenden Bewegungen aus dem Bild, wie nur Frauen in Träumen das können, ihre Opfer verstört der Welt überlassend, die hier das Aussehen einer vanillefarbenen Wand hat, an der eine tote Mücke im Kranz des eigenen getrockneten Blutes klebt.
Ich kenne diesen Raum, hier war ich schon mal. Nun bin ich wiedergekommen, die Wand hat auf mich gewartet, fünf lange, geduldige Jahre. Ich wollte nach Bali zurückkehren, ich bin wieder da, das Gedächtnis rekonstruiert den Raum, den Nachttisch mit der Zeitung aus Singapur, der Zeitung von gestern. In Singapur war alles mögliche passiert, doch hier hat es seine Gültigkeit verloren. Nachtschränkchen, Tisch, Buch, Ventilator, das Moskitonetz gleich einem zerrissenen Brautschleier, als ich es zur Seite schiebe, rückt die Welt näher. Ich höre nun auchdas Geräusch des Wassers, der Grund, weshalb ich erneut um dieses Zimmer gebeten habe. Jetzt weiß ich auch wieder, wie mein Körper in die Maße dieses Zimmers paßt. Ich sehe meinen Koffer, die Mattglastür zum Bad, den Weg zum Balkon, hoch über dem Fluß. Das war das Geräusch, das ich im Traum gehört habe. Die Frau war nicht eine Frau, es war eine langsame Prozession entlang einem Fluß, Frauen mit Opfergaben auf dem Weg zu einem Gott, den ich nicht kannte, ihrem hiesigen Gott. Ich trete hinaus auf den Balkon. Von hier geht es steil hinunter, das Grün ist unglaublich. Es ist grell, es ist gemein, es schneidet in die Augen, es ist barbarisch, es ist wild, es ist unbeschreiblich, weil es nicht beschrieben werden will, eine orgiastische Ansammlung von Organen, Lappen,
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