Schiffstagebuch
Verzierung aus gemeißelten Blättern zwischen zwei Wächterfiguren. Ich bleibe unten und schaue auf das kleine Holztor inmitten des moosbedeckten
Vulkangesteins, eine Art Tabernakel, doch es gibt niemanden, der mir sagen könnte, was sich in ihm befindet. Und als müsse es so sein, höre ich plötzlich
aus der Ferne das an diesem Ort und in diesem Augenblick so verfremdende Rufen eines Muezzins, der die Welt daran erinnert, daß es auch andere Götter
gibt. Nicht weit von hier befindet sich eine Siedlung buginesischer Fischer, Muslime, einst gefürchtete Seefahrer und Söldner, die vor Jahrhunderten aus
Celebes nach Bali kamen. Jetzt beginnen die Bilder übereinanderzutaumeln, denn als wir auf dem Rückweg kurz bei einer Steinmetzwerkstatt anhalten, sehe
ich, sehr kontrastreich, die Figur eines indonesischen Freiheitskämpfers mit drohend gehobenem Revolver und direkt daneben einen genauso hohen Buddha, der
die Linke in der Mudra des Predigens hält, ein fremder Gott, der hier nicht hergehört und zugleich doch. Erst später erinnere ich mich, daß an dem eisernen Gitterzaun, der das Tempelgelände zur Flußseite hin abschloß, ein kolonialer niederländischer Löwe angebracht war, ein anachronistischer Tempelwächter, der seine Wirkung für immer verloren hat.
Der Buddha und der Freiheitskämpfer
Goa Gajah
Wieviel muß man wissen? Was muß ich in einer romanischen Basilika wissen, wieviel in einer gotischen Kathedrale verstehen? Und wieviel muß ich wissen, wenn ich frühmorgens aufgestanden bin, nachdem jemand das Frühstück lautlos auf die Terrasse gestellt hat, vielleicht dieselbe Person, die bereits zuvor, als ich die Hähne krähen hörte, die ersten Opferblumen auf den Innenhof gelegt hat, den ich auf dem Weg zum Tor überqueren muß, wo Ketut mich erwarten wird, um mich zur Goa Gajah, der Elefantenhöhle, zu
bringen. Mit einem Elefanten hat diese Höhle nichts zu tun, soviel weiß ich. Wie jeden Abend vor dem Schlafengehen habe ich gelesen, bismir schwindlig wurde, mit jeder Sekunde ist die Insel, auf der ich mich befinde, älter geworden, Kulisse mythischer Kämpfe zwischen Licht und Dunkel, Gut
und Böse sowie anderer, historischer Kriege zwischen verschiedenen balinesischen Königreichen und des vergessenen Kampfes zwischen balinesischen Fürsten
und dem javanischen Reich Majapahit. In allen diesen Geschichten wirkt die kleine Insel wie sich selbst weggenommen, Spielball äußerer Kräfte, der große
Strom der Geschichte ist über sie hinweggegangen, alles, was ich sehen werde, ist das Produkt eines unaufhörlichen Wandels, in dem die Zeit der
niederländischen Herrschaft trotz dramatischer Ereignisse zu Beginn des vorigen Jahrhunderts lediglich eine flüchtige Episode ist. Es beginnt düster wie
immer, Prähistorie, Geschichte ohne Geschichte, man starrt in seinem Buch auf geheimnisvolle Gegenstände, die von einer Vorzeit erzählen wollen, dann
kommt die große Maschinerie in Gang, Einflüsse aus dem, was wir heute Indien und China nennen, Götter, Heilige und Dämonen sind in veränderter Gestalt in
diesen Regionen zurückgeblieben, Hinduismus hat sich mit Buddhismus vermischt, Tempelwächter haben sich chinesische Masken aufgesetzt, die Richtung, in
der ein Berg liegt, will etwas Günstiges über die Zukunft erzählen, alles, aber auch wirklich alles wird vom Kampf zwischen der Oberwelt aus Bergen und
Göttern und der Unterwelt der Dämonen bestimmt. Dazwischen liegt die madyapada , die Welt der Menschen, die zusehen müssen, wie sie mit Gut und Böse
zurechtkommen, Unheil mit magischen Handlungen und Opfern beschwören, auf der Suche nach der Freistatt, an der all diese Gegensätze nichts mehr bedeuten,
wo die Seele von der Welt befreit ist und ins Unbenennbare heimkehrt.
Goa Gajah, die Elefantenhöhle
Sind die Menschen auf den Motorrollern um mich herum die gleichen wie die von den Tempelzeremonien? Und was für eine Transformation ist das dann? Ich sehe mir ihre Gesichter unter den Helmen an, paßt ein hoher Stapel Opferfrüchte noch darauf? An der Ampel kann ich schauen, soviel ich will, es ist nichts zu sehen. Nicht eines dieser Gesichter will verraten, daß sein Besitzer ein individuelles Produkt einer vieltausendjährigen asiatischen Geschichte ist, einer gigantischen Mischung aus Kosmologie, Mythos, Religion, Krieg und Frieden, und das ist eine historische Sichtweise und zugleich eine objektive Wahrheit. Was Ketut darüber denken würde, werde ich nie
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