Schilf im Sommerwind
anders bist, nicht wie er, aber er war ebenfalls jünger als ich. Er wollte mich zum Malen zwingen, bevor ich auch nur daran denken konnte.«
»Glaubst du, das tue ich auch?«
Dana schüttelte den Kopf, ergriff seine Hand. »Nein, du nicht. Aber ich bin völlig durcheinander. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.«
»Ich schon.« Er lächelte.
Dana wollte mehr dazu sagen, aber in diesem Augenblick erspähte sie Quinns Taschenlampe, deren Lichtstrahl im Wald auf und ab hüpfte, über die Felsen glitt und den Heimweg beleuchtete. Sam hatte sie ebenfalls gesehen.
»Sie kommt«, sagte Dana.
Sam nahm ihre Hände. Er umfasste sie leicht mit einer Hand und blickte ihr dabei tief in die Augen. »Nimm dir alle Zeit der Welt, um das zu finden, was du brauchst.«
»Was ich brauche, sind Antworten«, sagte sie, während die Gedanken durch ihren Kopf wirbelten. »Warum meine Schwester starb. Und wo ihr Medaillon ist – sie legte es nie ab, weißt du. Es wäre schön, wenn ihre Töchter es bekämen.« Sie blickte Sam an. »Du sprichst davon, die
Sundance
zu finden und zu tauchen …«
»Nein. Ich meinte dein Leben. Ich kann es nicht ertragen, dich leiden zu sehen, Dana. Ich möchte, genau wie bei dem alten Seebären, dass du den Zauber des Lebens wiederfindest.«
Danas Augen füllten sich mit Tränen, weil das auch ihr sehnlichster Wunsch war. Sie dachte an die Farben im Schuppen, und einen Moment lang juckte es sie in den Fingern, zum Pinsel zu greifen.
»Ich möchte dich noch etwas fragen, bevor Quinn kommt.«
»Was denn?«
»Du bist doch nächsten Donnerstag in New York, oder?«
»Ja. Ich treffe mich mit jemandem zum Mittagessen.« Dana erinnerte sich, dass er zum Abendessen da gewesen war, als sie die Verabredung getroffen hatte.
»Würdest du dir den Abend für mich freihalten?«
»Ach Sam, ich weiß nicht …«
»Bitte! Montag tauchen wir nach der
Sundance
. Je nachdem, was wir vorfinden, und wenn alles so verläuft, wie ich denke, treffen wir uns am Brunnen im Lincoln Center.«
»Warum?«
»Das werde ich dir erklären, wenn wir uns sehen. Wirst du kommen?«
»Vielleicht. Mehr kann ich nicht versprechen.«
»Mehr kann ich nicht verlangen.« Sam küsste sie ein letztes Mal, dann ließ er sie mitten im Wohnzimmer stehen. Sie fragte sich noch immer, warum sie plötzlich den brennenden Wunsch zu malen verspürte, als Quinn zur Tür hereinkam.
Sie verschwendete keine Zeit damit, sich selbst oder jemand anderem Rechenschaft abzulegen. Nach Mitternacht, als die Mädchen im Bett lagen und schliefen, schlich Dana auf leisen Sohlen nach draußen. Sie ging den Hügel zum Schuppen hinunter und stellte sich vor ihre Leinwand. Sie fühlte sich inspiriert, brannte vor Tatendrang, und woher diese schöpferische Kraft auch kommen mochte, sie war Sam dankbar dafür. Sie mischte ihre Ölfarben an, und zum ersten Mal seit Monaten begann Dana zu malen.
Quinn hörte den Anrufbeantworter ab, die Nachricht war für sie bestimmt: Montag war der große Tag. Sam würde mit dem protzigen Ozeanographie-Dampfer anrauschen, und dann würden sie alle Antworten erhalten, die sie brauchten. Doch als sie dieses Mal in den Schuppen hinunterlief, um Tante Dana die Neuigkeit mitzuteilen, wartete der Schock ihres Lebens auf sie.
Tante Dana hatte gemalt. Vermutlich die ganze Nacht.
Das Bild war nur zum Teil fertig und die Garage wie üblich stockfinster, aber trotzdem konnte Quinn erkennen, wie schön es war. Die Blau- und Purpurschattierungen gingen fließend ineinander über, und goldene Akzente verliehen den Spitzen der Wellen Glanz. Tief unter der Oberfläche war das Meer still und unbewegt. Grindwale und Lippfische tummelten sich inmitten des Riementangs. Quinn hatte wohl nach Luft geschnappt, denn ihre Tante lächelte. »Was ist?«
»Du malst ja!«, flüsterte Quinn.
»Richtig.«
»Das hätte ich nie für möglich gehalten. Nicht hier.«
»Ich auch nicht.«
»Was ist passiert? Wieso hast du plötzlich wieder angefangen?«
Ihre Tante schwieg. Sie wischte sich die Hände an den Seiten ihrer Jeans ab, wo sie bereits viele Farbkleckse hinterlassen hatte. »Es war an der Zeit, Quinn. Jemand hat mir geholfen, das zu erkennen. Wir müssen unseren Weg im Leben weitergehen, ungeachtet der Rätsel, denen wir uns gegenübersehen.«
»Wer war der Jemand?«
»Du, unter anderem.« Ihre Tante lachte.
»Sam war der andere, oder?«
»Möglich.«
»Magst du ihn?«
»Ich denke schon.« Quinn hätte gerne mehr zu dem Thema
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