Schilf im Sommerwind
den ganzen Nachmittag aus, bis die Sonne unterging. Als es draußen dunkelte, wurde Allie müde und gähnte.
»Können wir nach oben gehen, und du liest mir etwas vor?«
»Klar«, sagte Dana und nahm ihre Hand.
Allie kroch unter die Bettdecke, einen Arm um Kimba geschlungen. Sein verschlissenes Gesicht blickte Dana an, und sie erinnerte sich an den Tag, als sie ihn zusammen mit Lily im Spielwarenladen gekauft hatten. Sie las aus
Puh, der Bär
vor, während sich Allie an ihr Bein schmiegte.
»Meinst du, Mommy weiß das mit den weißen Blumen?«, fragte Allie, Dana mitten im Satz unterbrechend.
»Dass wir für sie einen Strauß gepflückt haben? Ja, davon bin ich fest überzeugt.«
»Weil sie die Blumen vom Himmel aus sehen kann?«
»Ja«, erwiderte Dana schlicht und einfach.
»Wo ist eigentlich der Himmel? Oben, am Firmament?«
»Manche Leute glauben das.«
»Ich kann mir den Ort nicht vorstellen, wo sie jetzt sind. Mommy und Daddy, meine ich. Ich wünschte, ich könnte es. Quinn meint, sie wären in der alten Blechbüchse auf dem Kamin, aber ich nicht. Das sind doch nicht meine Eltern, oder?«
»Nein, Allie, ganz sicher nicht.«
»Quinn geht immer zum Little Beach und sitzt auf ihrem Felsen, um ihnen nahe zu sein … ich habe nichts, wo ich hingehen könnte. Und du auch nicht.«
»Ich weiß.«
»Ich hatte sie aber genauso lieb wie Quinn. Auch wenn ich nicht jeden Tag an den Little Beach gehe und auf dem Felsen sitze.«
»Allie, du wirst deine Eltern immer lieb haben.« Dana umarmte und küsste sie. »Ich weiß das, und sie auch. Und deine Schwester ebenfalls.«
»Das hoffe ich«, sagte Allie. Dana hielt sie im Arm, bis sie eingeschlafen war und es an der Tür klopfte.
Es war Sam. Seine Haare und Brille funkelten im Licht, das auf der Veranda brannte. Durch die Fliegengittertür sah Dana, dass er einen Strauß weißer Blumen in der Hand hielt. Sie öffnete und bat ihn herein.
»Ich habe heute an euch gedacht«, sagte er und reichte ihr den Strauß.
»Sie sind schön.« Sie schnupperte an den Geißblattblüten, die sich an einer Seite hinabrankten.
»Ich habe versucht, mir alle Blumen in Lilys Wandfries ins Gedächtnis zu rufen.«
»Das ist dir gelungen. Du hast keine vergessen«, flüsterte Dana. Ihr Herz war schwer, als sie die Rosen, Lilien, Freesien und Kamelien betrachtete. »Schade, dass Allie schon schläft. Ich würde sie ihr gerne zeigen. Wir haben einen Strauß Gänseblümchen für Lily gepflückt.«
»Wo steckt Quinn?«
Dana deutete zum Fenster. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und in der Dunkelheit sahen sie das Licht einer Taschenlampe über die Wellen gleiten. Es strahlte vom Gipfel des großen Felsens über den Sund, wie ein Leuchtturm in Miniaturformat, der den Seelen ihrer Eltern den Weg wies. Durch das geöffnete Fenster wehte eine kühle Brise herein, die Dana erzittern ließ. Sam stand neben ihr, und sie spürte, wie ihr Atem schneller ging.
»Heute vor genau einem Jahr sind sie gestorben«, sagte Dana beklommen.
»Ich weiß.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Ich weiß nicht mehr, was ich von der ganzen Sache halten soll. Ich kann einfach nicht glauben, was Quinn behauptet …«
»Dana«, fiel ihr Sam sanft ins Wort. »Ich möchte mit dir reden. Ja?«
Dana verspürte ein Kribbeln im Bauch. Sie nickte und ging ihm ins Wohnzimmer voraus. Die Kerze, die Allie und sie angezündet hatten, stand noch auf dem Tisch und warf flackernde Schatten an die Holzdecke. Ihre Schulter brannte an der Stelle, an der Sams Finger sie berührt hatten. Als er sich aufrichtete, wusste sie, dass er sich innerlich wappnete, um mit ihr über Quinns Auftrag zu reden.
Sam zögerte, wollte sie offenbar schonen.
»Also: Schieß los«, sagte sie.
»Bist du sicher?«
Sie nickte, spürte seine Besorgnis.
»Die Sache wird immer rätselhafter«, sagte Sam ruhig. »Ich habe im Sun Center angerufen, dort halten sie große Stücke auf Mark und seine Arbeit. Ich habe mit dem Direktor und dem Leiter des Planungs- und Entwicklungsausschusses höchstpersönlich gesprochen. Allem Anschein nach haben sie vor, die Anlage zu erweitern.«
»Aber das Geld – woher stammt es? Ich habe die Angelkiste mit nach oben genommen, damit die Mädchen nichts merken, und es gezählt – es sind fünftausend Dollar!«
»Das ist viel Geld. Mein Bruder meinte, dass bei solchen Bauprojekten manchmal Geld unter der Hand den Besitzer wechselt, aber bisher habe ich nichts gefunden, was darauf hindeuten
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