Schilf im Sommerwind
betrachtet.«
»Da hast du viel Wasser zu Gesicht bekommen.«
»Im Augenblick frage ich mich jedoch, warum ich Neuengland überhaupt verlassen habe.« Dana schirmte ihre Augen ab, als die Sonne tiefer sank, ihrer zarten Haut und weißen Hemdbluse einen rosigen Schimmer verlieh und sie in Licht badete. »Es gefällt mir hier sehr.«
»Neuengland.« Sams Herz machte einen Sprung. »Du redest aber nicht nur über Connecticut, oder?«
»Nein. Mir haben auch die Sommermonate gefallen, die Lily und ich in Newport verbrachten.«
»Weil eure Schüler so brav waren«, erwiderte Sam ausdruckslos.
Dana lachte. »Stimmt. Und Martha’s Vineyard war einfach himmlisch …«
»Martha’s Vineyard?« Nun schlug Sams Herz Purzelbäume, landete in seinem Bauch und rief das gleiche Gefühl wie damals hervor, als er den Fahrplan der Fähre gelesen hatte. Als er in Vineyard Haven die
Islander
verlassen und sich erkundigt hatte, in welcher Richtung Gay Head lag, und dann die North Road entlanggefahren war.
»Du sagtest, du hättest mich dort gesehen.«
»Ja, habe ich.«
»Der Gedanke ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ich habe keine Ahnung, wann, wo und wie.«
»Wie wäre es, wenn ich dir das erzähle, nachdem du mir erzählt hast, warum du dort so glücklich warst?«
»Nun, das war mein erster eigener Hausstand. Lily nannte es ›mein Meer gleich um die Ecke‹. Sie fand mein Bedürfnis, durch die Welt zu reisen, obwohl ich genug Wasser direkt vor der Haustür hatte, ziemlich verrückt.« Sie deutete auf das Panorama des Long Island Sound, auf die Wellen, die im Licht der untergehenden Sonne purpurrot und golden glänzten. »Erst als sie zu Besuch kam, verstand sie mich. Ich blieb nur ein Jahr, dann übernahm sie das Haus. Nicht zuletzt deshalb, weil sie dort ihren Mann kennen lernte.«
»Auf Martha’s Vineyard?«
»Ja. Ich hatte ein kleines Cottage auf der Insel gefunden, in Gay Head, direkt nach der Biegung hinter den Klippen.« Sie schloss die Augen, und Sam wusste, dass sie sich die malerischen Klippen aus Tonsandstein vorstellte, mit ihrer goldenen, braunen und roten Färbung dort, wo sie steil in den atlantischen Ozean abfielen. »Das ist östlich von Newport, knapp hinter dem Horizont, aber der außergewöhnlichste Ort, an dem ich jemals gewesen war. Ich begann zu malen, sobald ich mich häuslich niedergelassen hatte, und arbeitete ein Jahr lang ohne Pause.«
»Du hast die Klippen gemalt?«
»Ich habe das Meer gemalt. Ich studierte zum ersten Mal die Schichten des Wassers. Und Felsen, Seetang, Fische und das im Sonnenlicht funkelnde Sedimentgestein waren nach meiner Ansicht das schönste Motiv, das sich eine Malerin nur wünschen kann.«
»Vor der Küste von Gay Head gab es große Fische.«
»Ich weiß. Einmal schwamm ich bei den Zacks Cliffs, und ein Surfcaster-Boot fuhr hinter mir in die Bucht, einen Blauhai im Schlepptau. Einen großen Blauhai.«
Sam nickte. Das Blut schoss ihm ins Gesicht, und er hoffte, dass sie diese Röte auf den Sonnenuntergang zurückführte. Genau dort, bei Zacks Cliffs, hatte er sie schwimmen sehen. Gay Head war ein kleiner Ort. Als er an jenem Tag nach ihr Ausschau gehalten hatte, hatte er den Wagen am Leuchtturm geparkt und war zu Fuß den Weg zum Strand hinuntergegangen. Er hatte sie in den Wellen erspäht.
Zacks war ein Nacktbadestrand.
Er war damals neunzehn gewesen. Elf Jahre nach dem Segelunterricht und nachdem er mit dem einen oder anderen Mädchen ausgegangen war und sich gewünscht hatte, sie sähen aus wie Dana, wären herzlich wie sie, könnten ihn zum Lachen bringen wie sie. In dieser Zeit hatte Sam beschlossen, sie zu suchen.
Was hatte er zu verlieren?
Er hatte zu den Besten in seiner Klasse an der Rogers Highschool gehört und ein Stipendium in Dartmouth erhalten, war danach als Ozeanograph und erklärter Einzelgänger auf der Schnellspur im Leben unterwegs gewesen, genau wie sein Bruder. Es war ihm nie gelungen, sich zu verlieben, und er konnte sich vorstellen, woran das lag. Keines der Mädchen, die er kannte, konnte Dana das Wasser reichen. Beflügelt von Joes verwegener Suche nach gesunkenen Schätzen, hatte sich Sam ebenfalls auf die Schatzsuche begeben.
Mit Lily hatte es angefangen. Als er ihr zufällig in Woods Hole begegnet war, wo er als Stipendiat während der Sommermonate an einem Forschungsprojekt mitgearbeitet und sie auf die Fähre gewartet hatte, hatte er sich betont beiläufig nach ihrer Schwester erkundigt. Er hatte erfahren, dass sie in
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